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Spirituelle Impulse und Anregungen

  • Der Blick ins Innere

    Petra Maria Hothum SND, Juni 2019

    In diesen Wochen bleiben Besucher des Ashram Jesu immer wieder einmal staunend vor der Rosenpracht in unserem Innenhof stehen. Ein wunderbares Bild bietet sich, wenn beim Eintreten durch das Hoftor die verschiedenen Rosenstöcke und –ranken in der Vielfalt ihrer Farben und Farbnuancen in den Blick kommen und die ganze Fülle sichtbar wird. Zwar sind einige der Rosen bereits verblüht und ihre abgefallenen Blütenblätter bilden einen Teppich auf dem Boden, doch zugleich öffnen sich immer neue Knospen. Es tut sich ein wirklicher Reichtum auf, eine geradezu verschwenderische Fülle. Diese Fülle gilt jedoch nicht nur im Blick auf die Gesamtheit der Blumenpracht, sondern auch im Detail. Immer wieder geht es mir so, dass ich auf eine einzelne Rosenblüte zugehe, davor stehenbleibe und mich im Blick auf diese eine Blüte oder in diese hinein fast verliere: staunend stehe ich vor der Komplexität ihres Innenlebens, vor dem wunderbaren Arrangement, der Besonderheit und Eigenart, die sich mir jeweils zeigt. Egal ob leicht erst geöffnet, ganz aufgeblüht oder bereits im Verblühen begriffen, egal ob eher spartanisch oder mit einer Unzahl von Blütenblättern ausgestattet, egal in welcher farblichen Gestaltung: jede Blüte hat ihre ganz eigene Schönheit und Würde, und es scheint angemessen und tut gut, dieser jeweils Raum zu geben und sie zu würdigen.

    Der Blick ins Innere einer Rosenblüte zieht nach innen, lässt innehalten und fragen nach dem eigenen Inneren. Mir fallen Worte von Rumi, einem islamischen Mystiker, ein: „Im Innern deines Leibes ruht ein kostbarer Schatz … Wenn du den großen Schatz zu finden trachtest, … blicke in dich hinein und suche ihn“. Diese Einladung, ins eigene Herz zu blicken, findet sich in seinen Texten in Variationen immer wieder. Doch nicht nur dort, sondern in den verschiedensten spirituellen Traditionen der Religionen ist es eine zentrale Weisung auf dem spirituellen Weg, bei sich selbst einzukehren und sich dem eigenen Inneren zuzuwenden. – Allerdings: so einfach wie der Blick ins Innere einer Rose ist dies nicht! Zwar gibt es in uns eine Sehnsucht nach diesem Bei-sich-Sein, diesem Kontakt mit sich selbst, aber es gibt zugleich auch den Widerstand dagegen, die Tendenz sich zu zerstreuen und an der Oberfläche und im Vielerlei hängenzubleiben.

    Neben einigen anderen Hilfen auf dem Weg nach innen, wie etwa dem schweigenden, achtsamen Dasein und der Meditation, wird hier im Ashram Jesu immer wieder auch die Gruppe als wichtige Unterstützung erlebt: zwar seinen eigenen Weg zu gehen, aber ihn nicht alleine gehen zu müssen, mit anderen zur gleichen Zeit und im gleichen Raum zu meditieren und vor allem auch, von anderen zu hören, was sie auf ihrem Weg bewegt und Resonanzen zu bekommen auf eigene Mitteilungen hin. Das ist etwas sehr Kostbares. Im Austausch in der Gruppe kann manchmal Ähnliches geschehen wie beim Blick auf das Innere einer Rosenblüte: ehrfürchtiges Wahrnehmen und Angezogen-Werden, wenn etwas von der Farbe und „Beschaffenheit“ des Inneren einer Person aufleuchtet, etwas von der Vielfalt ihrer Wirklichkeit hier und jetzt sichtbar wird. Es gibt echtes Mitleiden mit Nöten und Grenzen, an die der andere stößt, aber auch staunendes Verweilen und tiefe Mitfreude dort, wo Entwicklung, wo ein Durchbruch geschieht zu mehr Selbst-Kontakt und Lebensfülle und wo einen das Geheimnis aller Wirklichkeit unmittelbar berührt.

  • «Der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, taugt nicht.»

    Petra Maria Hothum SND, April 2019

    In diesen Tagen und Wochen, wo es überall – auch um den Ashram Jesu herum – grünt und blüht, kommt mir immer wieder ein Satz aus dem Gedicht „Bitte” von Hilde Domin in den Sinn: „Der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten, der Wunsch, verschont zu bleiben, taugt nicht.” Aber dennoch, wer würde das nicht gerne im Angesicht einer solcher Pracht und Fülle: den Blütenfrühling halten, die Schönheit, Buntheit und das Unverbrauchte des neu sprießenden Lebens bewahren, wohl wissend, dass der Weg zur Fruchtbarkeit und Reife nur über das Loslassen und Absterben der Blüten möglich ist.

    Auch die Jünger Jesu hätten gerne die „Blüten” des galiläischen Frühlings gehalten: die unmittelbare Wirkkraft der Worte und Taten Jesu, die Berührtheit und Begeisterung der Menschen über sein Auftreten mit Vollmacht. Dies alles ließ in Jesu Anhängern die Hoffnung wachsen und keimen, „dass er der sei, der Israel erlösen werde” (Lk 24,21), wie es die Emmausjünger formulieren. Es ließ ein bestimmtes Bild des Messias in ihren Herzen Raum greifen, die Vorstellung, dass er der erwartete politische Retter sei, der macht- und kraftvoll das Volk aus der römischen Herrschaft befreien könne. Mit Jesu Leiden und Sterben wird diese Vorstellung endgültig zunichte, erweist sich dieses Messias-Bild als eine Illusion. So, wie die Jünger es sich gedacht und gewünscht hatten, verhält es sich nicht: nicht mit Jesus, nicht mit ihnen, nicht mit den Menschen und ihrer geschichtlichen Situation. Sie können den „Blütenfrühling” nicht halten, keiner bleibt verschont, sie alle bleiben vielmehr enttäuscht und resigniert zurück, denn ihre Hoffnung und ihre Vorstellung von Rettung und Erlösung ist gestorben. Sie hat sich als Täuschung erwiesen, die im Tod Jesu ent-täuscht wird.

    Der Fortgang jedoch macht deutlich, dass das Ende dieser Täuschung nicht ein absolutes Ende ist. Im Wahrnehmen, Aushalten und Durchleben der enttäuschenden Wirklichkeit eröffnet sich den Jüngern eine ganz neue – zuvor völlig unvorstellbare – Lebensperspektive: die Erfahrung des Auferstandenen, der ihr eigenes Leben in der Tiefe berührt und neu und tiefer gründet.

    „Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen?” fragt der Auferstandene die Emmausjünger und eröffnet ihnen damit einen neuen Horizont, in dem ihr enttäuschtes Herz wieder zu brennen beginnt und langsam dafür bereitet wird, dass ihnen schließlich die Augen aufgehen und sie IHN erkennen.

    Auch uns selbst müssen immer wieder die Augen geöffnet werden, wenn wir mit Enttäuschendem in unserem Leben konfrontiert werden: die Wirklichkeit zeigt sich anders als von uns erhofft und geglaubt, ein Bild von uns selbst, von anderen, von einer Beziehung, einer Situation … erweist sich als Illusion, als Täuschung. Die Tendenz, sich dann resigniert zurückzuziehen oder mit aller Kraft anzukämpfen gegen die enttäuschende Wirklichkeit, kann uns in uns selbst verschlossen halten. Manchmal aber wird es uns geschenkt, eine solche Wirklichkeit an uns heranlassen und durchleben zu können mit all ihren Facetten, besonders den unangenehmen und schmerzlichen. Auf diesem mitunter langen und schwierigen Weg kann sich auch uns eine neue Perspektive eröffnen. Wir können die Enttäuschung als das Ende einer Täuschung begreifen, kommen mehr in Kontakt mit unserer Tiefe, gelangen zu einem Einverständnis mit dem, was ist und wer wir in Wahrheit sind. Und vielleicht dürfen wir auf dem Grund von allem einer Liebe begegnen, die alles umfängt und fruchtbar werden lässt.

    Ich wünsche uns die Offenheit für solche wahrhaft österlichen Erfahrungen, die Freude am Blütenfrühling, ohne ihn halten zu wollen. Und die Hoffnung und Zuversicht, dass unser Leben im Loslassen und Durchleben dessen, was uns jeweils gegeben und zugemutet ist, tiefer gegründet und fruchtbar werden kann.

  • Suche, ohne zu suchen!

    Bertram Dickerhof SJ, Februar 2019

    Unser Leben vollzieht sich im Alltag. Beruf, Familie, Schule, Aus- und Fortbildung, selbst der Jahresurlaub lässt sich ins Alltagsgeschehen einrechnen. Die Sehnsucht des Menschen, die über alles Alltägliche, ja über alles, was ist, hinausgeht, muss, wenn sie ernst zu nehmen ist, von daher im Alltag ebenfalls ihren Platz haben. Sie hat ihn als Suche. Suchen braucht eine Vorstellung vom Gesuchten als „etwas”, das wir suchen können, außerdem Assoziationen dazu und Schlussfolgerungen daraus, wie und wo dies gesucht werden kann. Wer aber „etwas” sucht,  kann nicht finden, was über jedes Etwas hinaus geht. Also geht es darum zu suchen, ohne zu suchen. Für solches Suchen werden wesentlich sein Offenheit und Empfänglichkeit, um das Gesuchte in dem zu entdecken, worin es sich uns mitteilt. Wenn es sich mitteilt. Rumi, der große persische Mystiker des Mittelalters, ist sich sicher, dass die Liebe, – sie ist für ihn das, was über alles hinaus geht – den Menschen sucht: „Liebe, wenn ich nach dir Ausschau halte, merke ich, dass du mich suchst.” Das trifft auch zu auf den Gott und Vater Jesu Christi, „durch dessen barmherzige Liebe das aufstrahlende Licht aus der Höhe” (Lk 1,78) den Menschen in Jesus sucht und besucht.

    Gewöhnlich sehen wir den Alltag mit seinen Mühen und Freuden lediglich als das Instrument an, unser Leben in dieser Welt fristen und genießen zu können. Er ist aber zugleich das Instrument, durch das uns Gott zur Vereinigung mit sich führen, sich uns schenken, unsere Sehnsucht über alles hinaus erfüllen will. Die Ereignisse des Alltags, die guten wie die schlimmen, die Mühen, die Enttäuschungen, die Freuden, alles dient dazu, uns zu verwandeln, um zur Begegnung mit Gott fähig zu werden. In dieser Sicht wird das Faktische des Alltags, das, was im Alltag auf uns zukommt, von Gott her Zugeschicktes, auf das der Vertrauende antwortet, indem er offen dafür ist, es an sich heranlässt, es anzunehmen lernt und rückblickend darin die Führung Gottes erkennt.

    Die Augen für die Anwesenheit Gottes in allen Dingen, in allen Ereignissen des Lebens, im Zugeschickten, gehen uns nur auf, so erkennt der Jesuit Alfred Delp, der mit seiner Verurteilung und Hinrichtung rechnen muss und den damit verbundenen Gefühlen in seiner Gefängniszelle in Plötzensee nicht ausweichen kann, wenn wir die guten und die bösen Stunden durchleben. Nur dadurch, dass sie uns ermutigen und verändern dürfen, ist zu dem Brunnenpunkt zu gelangen, an dem der durch sie Verwandelte einen Anteil erlebt an der Erfüllung seiner Sehnsucht.

    Im Jugendzentrum, meinem ersten Einsatzort als junger Priester, gab es einen Zivi, der meinen Kampf um den Erhalt des Jugendzentrums gewöhnlich mit dem in Bayrisch vorgetragenen Spruch garnierte: „Es geht alles gut aus!” Ich hätte ihn dafür ohrfeigen können (habe mich aber auf Augenrollen beschränkt). Heute sehe ich: der Mann hatte Recht. Allerdings: die Vorstellung davon, was gut und was schlecht ist, muss man aufgeben, statt sie der Wirklichkeit aufzwingen zu wollen. Und wichtiger als Machen und Tun sind Empfänglichkeit, Offenheit und Durchleben, um das Handeln zu erkennen, das Gott für uns bereitet hat, damit wir es vollziehen (Eph 2,19). Dann wird das Leben frei, es wird in einer einfachen und nüchternen Weise erfüllt, bleibt gegründet auch in schweren Stunden, wird gelebt mit wachsender Zuversicht auf eine endgültige Erfüllung der Sehnsucht über alles hinaus im Tod, da sie sich immer wieder anfanghaft gezeigt hat in den Toden mitten im Leben.

  • Die Heiligen Drei Könige

    Bertram Dickerhof SJ, Januar 2019

    Besonders anregend während der gerade zurückliegenden Weihnachtszeit fand ich die Begegnung mit folgenden biblischen Gestalten: den Magiern aus dem Osten und Maria, der Mutter Jesu.

    Die Magier aus dem Osten, aus denen das Mittelalter die heiligen drei Könige gemacht hat, sind auf Suche nach dem „neugeborenen König der Juden”. Wie ihnen geht auch uns manchmal ein Stern auf; ein Himmelslicht, das unsere Sehnsucht weckt nach „etwas”, das von ganz anderer Art ist als die Welt, in der jeder von uns lebt. Und wir wünschen uns, es zu finden und ihm huldigen zu können, weil wir hoffen, dann endlich angekommen zu sein und in ihm unser Alles gefunden zu haben.

    Wer allerdings, wie die Magier, diesem „Etwas”, wofür der Stern steht, einen Begriff und eine Vorstellung gibt – ihre ist „der neugeborene König der Juden”, – und aus dieser Deutung die entsprechenden Schlüsse zieht – der neugeborene König der Juden ist natürlich in Jerusalem geboren – der wird, wie sie, nicht mehr nach dem Stern ausschauen müssen und enttäuscht in Jerusalem stranden, d.h. Dynamiken begegnen, die das Bestehende festhalten, von Veränderung nichts wissen wollen und mit Abwehr und Zweifel reagieren. Solche Jerusalem-Phasen sind wohl unvermeidlich und auch nötig, weil erst durch Ent–täuschungen hindurch allmählich das Reisen „in der Nacht” gelernt wird, bei dem Orientierung durch Sinneseindrücke ja nicht mehr möglich ist. Nur wer hellwach und in der Einheit des Bewusstseins unterwegs ist, kann den Stern sehen und ihm folgen – punktgenau zu dem Ort, an dem das Gesuchte daheim ist.

    Mit anderen Worten: wer nach der Vorstellung sucht, die er sich macht von dem, was über unsere Welt hinausgeht, der kann das Vorgestellte vielleicht erfahren, aber er findet nicht das Gesuchte, da es über unsere Welt hinausgeht. Dieses ist nämlich ganz anders als jede mögliche Vorstellung oder jeder Begriff davon. Wer so Erleuchtung sucht oder Gott oder Erlösung, der wird nichts davon finden: Erleuchtung, Gott, Erlösung übersteigen unsere Welt.

    Also kommt es darauf an, solches Suchen einzustellen und sich finden zu lassen. Die Botschaft von Weihnachten ist ja gerade, dass Gott den Menschen sucht und sich ihm mitteilen will. Derjenige, der das begriffen hat, ist vom Tun, Machen, Herstellen zum Sich-Öffnen und Empfangen übergegangen – wobei dieser Übergang wiederum empfangen wird und nicht gemacht werden kann. Für das Gefunden–Werden bekommt, was dem Menschen im Leben geschieht und auf ihn zukommt, besondere Bedeutung.

    Maria, eine andere weihnachtliche Gestalt, steht für dieses Sich-Finden-Lassen: „Mir geschehe nach deinem Wort” erwidert sie dem Engel, der ihre Schwangerschaft mit „dem Sohn des Höchsten” ankündigt, „der den Thron seines Vaters David bekommt”. Was bedeuten diese Worte? Auch für Maria wird diese Ankündigung viele Fragen aufwerfen und viele Unsicherheiten auslösen. Doch in ihrer schlicht ausgedrückten Bereitschaft bekundet sie ihre Offenheit und Empfänglichkeit für das, was auf sie zukommt.

    Zweimal wird von Maria gesagt, sie „bewahre und bewege die Worte und Ereignisse in ihrem Herzen”. Dies ist wohl ihre Art, Geschehenes, vor allem schwer zu Verstehendes, zu bewältigen. Und es ist die Weise, wie aus Enttäuschungen, – wie etwa den Jerusalem-Erfahrungen der Magier – Ent–täuschungen und Lernerfahrungen werden, in denen der Mensch von Begriffen und Vorstellungen zu einem Wissen hinfindet, das nicht weiß, und doch ganz gewiss ist. In dieser Weise ist Maria dahin gekommen mit ihrer ganzen Existenz zu „wissen”, dass ihr Sohn die Erscheinung der Güte und Menschenliebe Gottes ist, dessen, dem unsere über alleWelt hinausgehende Sehnsucht gilt. In der Art dieses Wissens ist sie fähig, unter dem Kreuz ihres Sohnes zu stehen und auszuhalten.

    Das Gute im Leben, Erfolg, Trost bestätigt uns und ermutigt uns, den Weg weiterzugehen. Hingegen wohnt dem Störenden, Enttäuschenden, anscheinend Sinnlosen, wenn es im Herzen bewahrt und bewegt wird, die Chance inne, das eigene Selbstverständnis und In-der-Welt-Sein zu verwandeln. Bei diesem Prozess der Neuschöpfung wird nichtwissend wissend die Quelle des Lebens berührt, aus der Vertrauen, Hoffnung und Liebe ins eigene Leben – und darüber in die Welt – fließen.

  • Weihnachten

    Bertram Dickerhof SJ, Dezember 2018

    In diesem Advent beschäftigt mich, dass Jesus draußen auf dem Feld geboren wird, außerhalb des Bezirks der Menschen. Jesus wird sein ganzes Leben „draußen“ leben, „in der Welt“ zwar, aber nicht „von der Welt“. Vom System dieser Welt wird er erst beargwöhnt, dann abgelehnt, schließlich zum Tod verurteilt. Er stirbt draußen, vor den Toren der Stadt.

    Um die Bedeutung von Geburt und Leben Jesu außerhalb des Systems der Welt mehr zu verstehen, schaue ich in mich selbst, auf das Grundgefühl, das ich – besonders nach Phasen mit viel Stress – habe, und das auch andere so ähnlich kennen, wie ich aus vielen Gesprächen weiß. Es scheint ein Mix zu sein von Unzufriedenheit, Erschöpfung und dem Gefühl, irgendwie mich selbst ein Stück weit verloren, zumindest verraten zu haben. Ich lebe in der Welt und verstricke mich immer wieder in den Dynamiken, mit der sie auf mich einwirkt: Vorstellungen, wie ich sein und mich fühlen, was ich haben und erreichen sollte, müsste, könnte gewinnen Macht über mich. Unversehens treiben sie mich an. Auch wenn ich derart angetrieben manche Erfolge erzielen kann, ist da ein Empfinden, so getrieben nicht sein und leben zu wollen, ja in dieser Ausrichtung „schief gewickelt“ zu sein und wie gefangen. „Sünde“ nennt das die Schrift. Wonach ich mich sehne, was ich sein will, liegt draußen, jenseits meines Systems: ein Leben in Liebe und Unmittelbarkeit, in Freiheit und Einheit mit mir selbst – unvergänglichen Werten, für die Jesus steht. Wie kann ich sie in meinem Leben mehr zur Geltung bringen?

    Maria und Josef zeigen uns, auf welchem Weg die Verlagerung des Lebensschwerpunktes nach draußen stattfindet. Sie haben sich auf das eingelassen, was in ihrem Leben auf sie zugekommen ist – bei Maria ihre ungeplante Schwangerschaft, bei Josef die unerwartete Schwangerschaft seiner Braut – und haben es durchlebt. Auf einem solchen Weg kann die Wirklichkeit immer unverstellter und unverzerrter zu Bewusstsein kommen, wenn dieses bereit ist für die Wahrheit. Wenn das, was ist, wie es ist, bei einem Menschen angekommen ist, macht es ihm Teile seines Lebensfundamentes bewusst und entlarvt sie als Illusionen und Zielverfehlungen. So hatte Josef die Vorstellung, sich seiner schwangeren Braut zu entledigen. Im Traum ergeht an ihn jedoch der Ruf, seine Vorstellungen zu lassen, nicht seine Braut. Wer den Ruf vernimmt, zu lassen, wo er oder sie schief gewickelt ist, und diesem Ruf vertraut, der gerät nach draußen, der kommt am Stall an, demütig geworden, fähig zu empfangen und zu danken. Ja, er selbst wird zum dürftigen Stall, in den das göttliche Kind geboren wird: neues Leben wird ihm geschenkt.

    Was also als Notlage und Krise beginnt, birgt die Chance in sich, als selige Verwandlung des Selbst zu enden. Gott führt uns durch das, was uns in unserem Leben begegnet, auch in Krisen und Nöten. Dieser Meinung ist jedenfalls der eingeborene Haushofmeister Farah in Tania Blixens Buch „Jenseits von Afrika“. Als die Plantage brennt und seine Chefin alles verliert, weckt er sie mit den Worten: „Stehen Sie auf, Memsahib, Gott kommt!“

    Ja, es gibt diese Entwicklung im Leben des Menschen heraus aus der Welt und ihrem Bann. Doch gleichzeitig bleibt die Spannung des „in der Welt“ – nicht „von der Welt“ bestehen. Und es bleibt die Aufgabe, diese zu bewältigen bzw. das Scheitern daran immer wieder zuzulassen und durch es hindurchzugehen, um es so fruchtbar für die ewigen Werte zu machen und der Welt doch ein wenig mehr „abzusterben“. Abzusterben – bis schließlich Bruder Tod den Kampf beendet und unseren Lebensschwerpunkt grundlegend verlagert dorthin, wo das Wunder der Weihnacht uns endgültig zu uns selbst befreit und in Liebe erstrahlen lässt.

  • Dasein im Schauen

    Petra Maria Hothum SND, Oktober 2018

    Es hat sich gefügt, dass ich bin und schaue. …
    Bei solch einem Anblick verlässt mich stets die Gewissheit,
    dass das Wichtige wichtiger ist
    als das Unwichtige.

    — Wislawa Szymborska

    An diese Gedichtverse der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska musste ich denken, als ich vor ein paar Tagen am schmiedeeisernen Hoftor des Ashram Jesu unzählige Spinnennetze entdeckte, die mit Tauperlen übersät waren. Ich blieb stehen, schaute und bestaunte dieses filigrane Kunstwerk, die verschwenderische Fülle im scheinbar „Unwichtigen”, die sich meinem Auge bot. Sie war wunderbar, ließ sich allerdings nicht annähernd in ein Foto bannen, wenngleich ich einem Versuch nicht widerstehen konnte. Diese Schönheit und Pracht war einfach nur da, um in diesem Augenblick in Augenschein genommen zu werden, um hier und jetzt den zu berühren, der ist und schaut oder besser vielleicht gesagt: dem sich im Schauen eine Ahnung von unbedingtem Sein-Dürfen vermittelt.

    Eine solche Schönheit und Fülle lässt sich weder halten, noch hat sie für den Betrachter einen greifbaren Nutzen. Das, woraus sie besteht, hat keinen materiellen Wert, ist völlig unspektakulär. Ja, unter dem Blickwinkel der Funktionalität erscheint sie sogar als störender, lästiger Schmutz, den es zu entfernen gilt, um die gepflegte Fassade wieder herzustellen. Und im Blick auf den gesellschaftlichen Trend hin zum Schneller, Weiter, Höher, Größer, Spektakulärer … fällt sie komplett durch.

    Und dennoch war dieses morgendliche Erleben für mich ein Geschenk mit nachhaltiger Wirkung:

    • So hat es Erinnerungen geweckt an vergleichbare Momente, auch in meinem noch nicht sehr lange zurückliegenden Urlaub, wo es oft nicht so sehr die großen, prächtigen Fassaden, ausgewiesene Kunstwerke oder gewaltige Naturereignisse waren, die zu diesem Sein und schauenden Innehalten führten, sondern vielmehr kleine „Unwichtigkeiten” und Gewöhnlichkeiten, die mich in ihren Bann zogen und zum Verweilen einluden, die mich einfach da sein ließen, eine mitunter unerwartete Freude in mir weckten und mich innerlich erfrischten.
    • Es brachte einen Fragenkomplex zum Klingen, der mich immer wieder einmal bewegt: Was ist wirklich wichtig? Was hat eigentlich Bedeutung? Worin liegt wahre Lebensfülle? … Und ich merkte, wie immer wieder Antwort-Facetten in mir aufstiegen, die das Erleben am Ashram-Tor umschrieben. Sie haben zu tun mit dem Wahrnehmen-Können des Feinen, Leisen, Übersehbaren, dem schauenden Verweilen-Können bei dem, was man so nie gesucht und vielleicht auch nicht gewünscht hätte, weil es zu mickrig, gewöhnlich oder unzulänglich erscheint. Sie geben der Erfahrung Ausdruck, dass sich gerade darin unmittelbares Berührt- und Erfülltwerden ereignen und eine Qualität von unbedingtem Sein-Dürfen im Hier und Jetzt erschließen kann, ein Einklang und Einverständnis mit sich und dem, was ist.
    • Es erfüllte und erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, dass auch im Blick auf mich selbst die Aufmerksamkeit gerade auf die kleinen, scheinbar unbedeutenden oder vielleicht sogar unzureichenden, störenden inneren Regungen einen großen Reichtum eröffnen kann. Im Verweilen bei solchen Regungen wird mir Schritt für Schritt ein Weg gewiesen mehr zu mir selbst, zu dem Menschen, der ich in Wahrheit bin und sein soll, zur Fülle des Seins und der Liebe, „die die Wirklichkeit auf ihrem Grund durchseelt”, wie Bertram es in seinem letzten Newsletter ausdrückte.

    „Es hat sich gefügt, dass ich bin und schaue.” – Sein, Schauen, Verweilen, das ist es, wozu der Ashram Jesu einlädt, oder mit den Worten gesagt, in denen wir unsere Meditations- und Lebensweise gerne zusammenfassen: „Verweilen in der Wahrnehmung dessen, was ich von mir hier und jetzt merke – achtsam, gelassen, liebevoll.” Aus diesem schauenden, hörenden Dasein erwachsen Schritte auf dem Weg zum wahren Selbst. Zutiefst ist dies Geschenk, das wir nicht machen können. Aber wir können und dürfen der Sehnsucht danach einen Raum bereiten. Unterstützung dabei bieten auch die Kurse, Veranstaltungen und regionalen Gruppen des Ashram Jesu.

  • Tod

    Bertram Dickerhof SJ, August 2018

    In den letzten Wochen ist mir das Thema Tod in vielfacher Weise begegnet: da waren mehrere Gespräche mit Trauernden, die ihre erwachsenen Kinder verloren haben. Ich habe eine Ahnung bekommen von dem Schmerz und Weh, das wie ein Schwert durch die Seele dringt. Dann der Tod in der Natur rings um die Hirsenmühle: Bäume am Elbbach, die sich schon Ende Juli verfärben und ihre Blätter fallen lassen. Die Apfelbäume verlieren ihre Früchte, ihr Saft reicht nicht mehr, um sie zu halten. Verbrannte Felder und Wiesen, soweit das Auge reicht. Kürzlich habe ich gelesen, dass Wissenschaftler die Unumkehrbarkeit der Klimaerwärmung befürchten: die auftauenden Permafrostböden und die abtauenden Gletscher setzen ungeheure Mengen an CO2 frei, ein Effekt, der durch das Abholzen der Regenwälder noch verstärkt wird.

    Zerstörung und Tod.

    Und wir Menschen fliehen davor. Es darf uns nicht wirklich voll bewusst werden. Der Psychiater und Romanautor Yalom sieht in seiner existenziellen Psychotherapie als tiefsten Konflikt des Menschen den Konflikt von Sein und Nichtsein an. Kinder müssen sich schon in sehr frühen Jahren mit ihm auseinandersetzen und eine Möglichkeit finden, die Todesangst zu verdrängen. Diese ist die Angst vor dem radikalen Zu-Nichte-Werden, die Angst vor dem Nicht-Sein. Der Erwachsene wandelt diese Angst um in Furcht: die Furcht vor dem Sterbeprozess und wie er zu bewältigen ist; Furcht vor der Belastung der Angehörigen, vor dem Verlust, den der eigene Tod ihnen zumutet. Aber die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Nichts, vor der Auslöschung der eigenen Person. Als Kind lerne der Mensch, so Yalom, diese Angst durch Glauben zu bewältigen, und zwar daran, etwas so Besonderes zu sein, dass zwar die anderen sterben müssen, jedoch nicht man selbst. Oder durch den Glauben, dass einen vor dem Tode ein Retter bewahrt oder durch eine Mischform der beiden Glaubensinhalte. Damit ist bis auf weiteres der Tod auch für den Erwachsenen gänzlich aus dem Leben herauszuhalten, zumindest ist er an das Ende des Lebens zu verschieben, und dieses Ende ist so weit weg, dass man nicht daran denken muss. Wein, Weib, Gesang und Bäder halfen den antiken Griechen. Was hilft uns heute? Stress in Arbeit und Konsum? Das atemlose Gieren nach immer mehr?

    Das geht so, bis der Tod einen einholt: ein geliebter Mensch stirbt, und dieses Sterben trifft einen selbst ins Mark. Die eigene Person kommt in Todesgefahr und versteht, dass der Tod nicht am Ende des Lebens stattfindet, sondern bereits das ganze Leben begleitet. Der Sand in der Sanduhr des Lebens ist schon ganz ansehnlich durchgeronnen: vierzig Prozent, siebzig Prozent, …

    Für das spirituelle Leben ist die Wahrheit: „Ich sterbe – jetzt! Ich bin schon mitten drin im Sterbeprozess. Mein Tod hat schon begonnen!” von zentraler Bedeutung. Nur so ist ein Leben vor dem Tod überhaupt möglich: das eigene Tun und Lassen bekommt Bedeutung: es wird ja endgültig. Die Unterscheidung von Wert und Unwert wird erleichtert. Es wird klarer, was noch zu verwirklichen ist im Leben, und dass dies jetzt anzugehen ist, wo noch Kraft dazu da ist. Als welcher Mensch möchte man auf seinem Sterbebett liegen? Was soll dann geworden sein aus einem selbst? Wenn auf den Grabstein geschrieben würde, worum es diesem Toten im Leben wirklich gegangen ist: wie würde meine Wahrheit lauten?

    Wann immer ich in meinem Leben dem Tod begegnet bin, hat er mich in Panik versetzt. Zunächst. Doch dann hat mich die Begegnung mit dem Tod ernüchtert und zentriert. Der Ashram wäre ohne eine solche Erfahrung nicht entstanden. Das Bewusstsein des Sterbenmüssens ist eine große Kraft und Hilfe bei der Gestaltung des Lebens. Und es ist die Voraussetzung dafür, eine Erfahrung von Auferstehung geschenkt zu bekommen und damit die Hoffnung, dass sich das österliche Geheimnis im Zu-Nichte-Werden der eigenen Person vollendet. So lässt sich in nüchterner Hoffnung die Zeit gestalten, die einem auf dieser Erde gegeben ist.

  • Ostern

    Bertram Dickerhof SJ, April 2018

    Die Heiligen drei Tage des Sterbens und Auferstehens Jesu haben in diesem Jahr eine stille Freude, eine Zuversicht und eine Perspektive bei mir hinterlassen. Das Thema „Spannung” hat sich mir als „Megathema” des Evangeliums und des Osterfestes gezeigt: Spannung liegt über dem letzten Abendmahl durch die nahe Stunde der Passion, um die Jesus weiß, und die Anwesenheit des Verräters, mit dem Jesus das Mahl teilt. Jesus musste Spannung zulassen, wenn er sich auf die Bitten der Menschen einließ, in die Konflikte mit Pharisäern hineinging und mit seinen kleingläubigen und unverständigen Jüngern auf dem Weg war. Jesu Lehre mutet den Menschen Spannung zu: sich versöhnen und vergeben, Liebe selbst gegenüber dem Feind, Kranke und Gefangene besuchen, Kleidung, Obdach und Essen mit denen teilen, die dessen ermangeln, und handeln wie der barmherzige Samariter, der sich in seinen Geschäften hat stören lassen. Nichts davon ist möglich, ohne sich zu überwinden. Das Evangelium kündet von vielfältigen Spannungen, es mutet Spannung zu und es kulminiert in Spannung: am Kreuz ist Jesus total ausgespannt.

    Das Kreuz des Auferstandenen lehrt uns zu sehen, dass Spannung ein Megathema im Leben eines jeden Menschen ist. Das Leben steht in Spannung zum Tod, der seine Präsenz in den kleineren und größeren Verlusten enthüllt, die jeden Menschen im Lauf des Lebens treffen: Verluste an Geld, Vermögen, Schönheit, Jugend, Wünschen und Chancen, an Vorstellungen, die sich als Illusionen erweisen, an Beziehungen, an Gesundheit, Unbeschwertheit… Oft lassen wir diese vielfältigen Gespanntheiten des Lebens gar nicht als solche an uns heran. Fast automatisch fliehen wir davor oder kämpfen spontan dagegen an, genauso selbstverständlich, wie die Jünger bei der Verhaftung Jesu fliehen „müssen” oder die Menschen vor dem Kreuz Jesu, Gebildete und Ungebildete, ohne Zweifel überzeugt sind, dass ein Jesus, der nicht die Macht hat, vom Kreuz herabzusteigen, sich also aus der Spannung zu befreien, unmöglich der wahre Messias sein könne. Doch Jesus geht mit den Spannungen des Lebens ganz anders um: er lässt sich freiwillig in sie hineinnageln, er leidet sie aus bis zum Ende, bis der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei reißt, bis er in die Herrlichkeit der Freiheit verwandelt ist, zu sein, wer er selbst in Wahrheit, vor Gott, ist.

    Im Johannesevangelium (Joh 20,19-29) werden die Umstände der Ostererscheinungen vor den Jüngern und acht Tage danach vor Thomas, der sich zuvor nicht im Kreis der zehn anderen Jünger aufgehalten hatte, beide Male ähnlich geschildert: die Jünger haben sich eingesperrt, Jesus kommt, tritt in die Mitte, spricht den Friedensgruß. Den Durchbruch zum „Sehen des Herrn” bewirkt das alles noch nicht. Der Sieg der Osterfreude und des Osterglaubens wird dadurch bewirkt, dass Jesus ihnen seine Wunden zeigt. Die Jünger haben sie wohl nicht sehen können, er muss sie ihnen zeigen. Und erst da brechen sich die Erkenntnis des Herrn und die Freude Bahn.

    Die verschlossene Tür deute ich als Zeichen für die Spannung, in der sich die Jünger befinden und aus der sie nicht heraus können. In der angespannten Gruppe findet nun durch das Eintreten Jesu ein Prozess statt: es entsteht eine Bewegung („er kommt”), die ihre Beziehungen erfasst, das Zwischen – „er tritt in ihre Mitte” – vielleicht so, dass sie beginnen sich zu trauen, ihre Spannung in Worte zu fassen und das Gespräch ihnen Erleichterung verschafft („er sagt: Friede sei mit euch”)? Ihr Gespräch wird Erleichterung und Loswerden der Spannung als Thema und Ziel haben. So können sie seine Wunden aber nicht sehen. Er muss sie ihnen zeigen. Da erkennen sie sich selbst im gekreuzigten Auferstandenen wieder, erkennen sie, dass sie in Spannung sind und sie tragen dürfen und müssen, wie Jesus freiwillig sein Kreuz getragen hat; dass die Spannung nicht weg gemacht werden muss, dass sie weder verkehrt noch schlecht ist. Sie entspricht nicht der Auffassung der Vielen vom Leben und sie ist nicht angenehm. Das Annehmen der Spannung befreit vom Sisyphos-Kampf, das Leben spannungsfrei zu bekommen, was es jedoch nicht ist. In Wahrheit ist das Durchleben der Spannung, die das Leben bringt, der Weg zu seiner Vollendung: in der Herrlichkeit der Freiheit zu sein, was es in Wahrheit ist, nämlich Schöpfung der Liebe Gottes.

    Es trifft meine Erfahrung, dass der Auferstandene seine Wunden zeigen, sie aktiv offenbaren muss, damit man selbst sich darin erkennen kann und darüber die Erlaubnis bekommt, die eigenen Spannungen nicht weiter bekämpfen, nicht verdrängen, nicht lösen zu müssen, sondern sie durchleben zu dürfen – bis zum Ende, bis zu dem Punkt, an dem sie sich von innen her lösen und offenbaren, was zu tun ist. Das ist eine erlösende Botschaft: Die vielfältigen Spannungen des Lebens dürfen durchlebt werden. Sie sind Katalysatoren eines wahreren, auferstandenen Lebens in Gott. Bei mir löst das eine tiefe Freude und tiefen Frieden aus: das Ende der Kämpfe ist in Sicht. Das Schreckliche verliert seinen Schrecken, wenn ich mich damit in den Wunden des Auferstandenen spiegeln kann.

  • Passion

    Bertram Dickerhof SJ, März 2018

    Oft wird am Ende eines Aufenthaltes im Ashram Jesu gesagt: „Gut, dass es diesen Ort gibt!” Der „Ort”: eine alte Mühle mit wenig Komfort und der Ästhetik der Einfachheit, schön gelegen, geradezu „umarmt” von Fluss, Wiesen und Wald, in einer Oase der Ruhe, der Unmittelbarkeit und des Sein-Dürfens. Ein Ort, an dem der Gast mehr bei sich selbst ankommt, bei seinem Grund; und er ahnt, dass dieser Grund der Abgrund des Geheimnisses aller Wirklichkeit ist; dass die Gegenwart, die ihn im Ashram Jesu umfängt, von Gott erfüllte Gegenwart ist. Ja, dann ist da gut sein!

    Allerdings, es passt, dass der Ort am Ende des Kurses gerühmt wird, dann nämlich, wenn der Gast wieder in seine Alltagswelt zurückkehrt, beschenkt und zentriert – und vielleicht auch froh, wieder abreisen zu dürfen. Denn bei sich selbst ankommen heißt, Ja sagen zu all den Seiten, die das Selbst während einer Zeit im Ashram zu erkennen gibt. Die angenehmen, schönen, friedlichen sind nicht das Problem, sondern die Öde und Stumpfheit, die das Selbst zeigt, seine Unzufriedenheit, manchmal Zerrissenheit, seine Hilflosigkeit… Wenn es Letztere erfährt, dann möchte es nicht mehr bei sich aushalten, sondern es strebt weg, um sich aus der Gegenwart zu retten.

    Als die Stunde seiner Passion gekommen ist, die alle kleinen und großen Passionen eines jeden Lebens in sich enthält, zeigt sich auch das Selbst Jesu als prekär, wenn es spricht: „Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen” (Joh 12,27). Wer existentiell erschüttert ist, was liegt dem näher als zu bitten „Vater, rette mich aus dieser Stunde”, und wegzulaufen, damit das Retten auch klappt? Doch Jesus will dieses Naheliegende nicht. Sein zweiter Satz heißt vervollständigt etwa: „Ich bin gerade deshalb in diese Stunde gekommen, damit ich, indem ich sie annehme, meine Bestimmung finde.”

    Das ist eine Herausforderung, die gegen den Strich geht und schwer zu fassen ist. Doch kann die klare Haltung Jesu auch entlastend wirken auf eine Person, die mit ihrer „Stunde” ringt und mit sich kämpft. Denn die Klarheit Jesu lässt die Wahrheit dieser Stunde, nämlich dass das Selbst prekär ist, zu Tage treten und macht klar, worauf es jetzt im Leben ankommt: diese Wahrheit gelten zu lassen und anzunehmen und dafür Energie und Aufmerksamkeit einzusetzen. Annehmen heißt, Ja sagen zu dem, was ist, und wie es im Bewusstsein ist, heißt wegstrebende Wünsche nicht auszuagieren und Vorstellungen loszulassen, an denen das Leben zu hängen scheint. Nur so kommt man auf dem Grund der Wirklichkeit an. Nur so gelangt man auch auf den Grund seiner selbst. Nur dort teilt sich Gott mit als Vater und weist die lösende Lösung. Die Kraft dazu kommt aus dem „wachet und betet!” des Ölbergs, der Meditation, der Gemeinschaft mit anderen auf dem gleichen Weg – und aus der Gnade. In dieser Kraft und in der Gewissheit, dass es jetzt so geschehen „muss”, lässt sich handeln und sich verhalten wie Gott es offenbart.

    Ein Jesus, der überzeugt ist, gerade „deshalb in diese Stunde gekommen” zu sein, damit er durch ihre Annahme seine Bestimmung findet, muss an einen Sinn sowohl einer solchen Stunde, als auch der Annahme des in ihr prekär gewordenen Selbst glauben. Dieser Sinn liegt in einer Transformation: das Selbst, „das sich als Weizenkorn in die Erde fallen lässt, … bringt reiche Frucht, … wird vom Vater geehrt, … wird dort sein, wo auch Jesus ist” (Joh 12,24-26): es wird hineinverwandelt in ein wahrhaftiges Sich-Selbst-Sein bei Gott.

    Ostern ist, dass dieser Glaube Jesu auch seine Jünger erfasst. Für sie wird Wirklichkeit, dass Jesus transformiert wurde, aufersteht ins Haus seines Vaters hinein, ins wahre Leben; den Jüngern wird plausibel, dass er ihnen dort einen Platz vorbereitet, eine Wohnung im Haus des Vaters, einen Ashram Jesu im Himmel sozusagen; sie erfahren sich auf dem Weg dahin begleitet, „damit auch ihr dort seid, wo ich bin.” Der Weg ins Leben ist sein Weg, der Weg der Annahme der Wahrheit des Selbst hier und jetzt. Darum: „Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Glaubt an Gott und glaubt an mich!” (Joh 14,1-6).

  • Weihnachten erfahren

    Bertram Dickerhof SJ, Dezember 2017

    An Weihnachten feiern die Kirchen das Fest der Geburt Jesu: Er lebt unser Menschenleben mit, ausgeliefert wie wir den Mächten und Gewalten dieser Welt. Anders als wir, lebt er aus einer innigen Verbindung mit Gott, seinem Vater, seinem tiefsten Grund, so dass die Kirche sagen kann: Jesus ist „Gottes Sohn”. Gott selbst ist in ihm an unserer Seite. Dieses Angekommensein Jesu bei sich selbst äußert sich als demütige Liebe, als Offenheit allen Menschen gegenüber, als Versöhnung und Vergebung, als Wahrheit. Nicht als Macht und Herrschaft und Gewalt. Diese demütige Liebe bleibt sich selbst treu im Leben wie im Sterben Jesu, inmitten seines Leidens, selbst in einer Flut von Hass und Verachtung, selbst am Abgrund des Bösen – so böse wie unsere Welt eben sein kann. Doch weil Jesu Liebe sich selbst treu bleibt, inmitten des anbrandenden Bösen er nicht aufhört zu lieben, läuft sich dieses Böse, läuft sich auch der Tod, an ihm tot. Tod und Bosheit haben nicht das letzte Wort. Unzerstörbar ist die Liebe, die aus Gott hervorquillt, die Er selbst letztlich ist.

    Eine wunderbare Botschaft. Gibt es bessere, trostvollerer Worte als diese?

    Doch es sind eben auch nur Worte. Man hört sie und vergisst sie. Oder wertet sie ab. Stimmen Sie überhaupt? Da wird von Gott gesprochen: gibt es denn einen solchen Gott? Und wenn es ihn gibt, ist er dann lieb? Und der menschgewordene Gott, Jesus: hat der denn wirklich gelebt? War er denn so, wie die Evangelien ihn darstellen? Ist er denn wirklich in demütiger, vergebender Liebe gestorben? Am Kreuz? Der Koran verneint Letzteres. Und viele Zeitgenossen verneinen alle diese Fragen. Mindestens gibt es Zweifel. Man sehnt sich nach einem Zweig von Hoffnung und Heil – etliche auch das nicht mehr – und muss die Achseln zucken angesichts der Welt, wie sie im Alltag erlebt wird. Es zweifeln nicht nur die andern, die das Credo nicht mitsprechen: auch wir selbst zweifeln immer wieder.

    Deswegen ist es mir im Lauf der Jahre immer wichtiger geworden, in einem Deutschland, das inzwischen zu einem der vielleicht am wenigsten betenden Länder geworden ist, zu werben für ein Beten, das in Einkehr bei sich selbst und Innehalten besteht; im Gewahren dessen, was das eigene Herz bewegt – und einem Dabei-Verweilen, indem die Person dem Herzen das, was ist, zugesteht, es annimmt und dasein lässt: es ist doch ein Teil der Person selbst hier und jetzt, das Schöne und das Elende. Dann hat sie die Chance, und nur dann, mit der Erfahrung demütiger Liebe beschenkt zu werden, deren Existenz wir an Weihnachten feiern. Nur so besteht die Chance, der Wirklichkeit Gottes gewahr zu werden. Schöner gesagt:

    Die Frucht der Stille ist das Gebet.
    Die Frucht des Gebets ist der Glaube.
    Die Frucht des Glaubens ist die Liebe.
    Die Frucht der Liebe ist das Dienen.
    Die Frucht des Dienens ist der Friede.

    — Mutter Teresa

    „Es ist alles so einfach”, sagt Mutter Teresa. „Warum sollte jemand eine Anleitung für diesen einfachen Weg brauchen? Wir, oder sonst jemand, brauchen nur zu beten und zu beginnen, einander zu lieben. Der erste Schritt besteht darin, es zu wollen.”

    In der Tat ergeben sich aus solchem Beten Handlungen im Geiste Jesu: Begegnungen. Einfache Begegnungen. Nicht als Geber und Nehmer, nicht in Rollen, sondern als Menschenbruder und Menschenschwester. Menschliche Begegnung – auch mit den Bettlern auf der Straße und den aus ihrer Heimat zu uns Geflüchteten. Vielleicht davon mehr – und weniger weihnachtlicher Kaufrausch.