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Zwei Welten

Bertram Dickerhof SJ, September 2014

Deutlicher als je zuvor ist mir bei den Schriftbetrachtungen in den letzten Grundübungen die Existenz zweier Welten aufgegangen: Die erste Welt ist die uns selbstverständliche, in der wir unser tägliches Leben vollziehen. Es ist die gesellschaftlich konstruierte, inzwischen globalisierte Welt. Ihre Werte, ihre Kultur, ihre Normen und Regeln bestimmen unseren Lebensalltag: Machen und Gebrauchen der Dinge, Sich-Absichern – und von allem immer mehr. Hin und wieder erleben die Bürger dieser Welt etwas wie eine „Gipfelerfahrung“: unbedingte Annahme ihrer selbst und Eröffnung des Seins auf seine Tiefe und Mitte hin. Liebe, Bescheidenheit, Freundlichkeit, … teilen sich mit. Und das eigene Herz bejaht erfüllt, was es erlebt. Doch verblassen solche Gipfelerfahrungen auch wieder im Tal des von Haben-Wollen und Gewalt geprägten Alltags. Sie sind seltene und tröstliche Momente, sie sind auch Indizien und Einladungen einer anderen Welt, die ebenso gegeben, dauerhaft und präsent ist.

Das tibetanische Totenbuch sieht diese als die ursprüngliche Welt an:“Erinnere dich an das klare Licht, das reine, klare, weiße Licht, von dem alles im Universum abstammt, zu dem alles im Universum zurückkehrt, die ur¬sprüngliche Natur deines eigenen Geistes. Der ur¬sprüngliche Zustand des nicht-manifestierten Univer¬sums. Ergib dich dem klaren Licht, vertraue ihm, ver¬schmelze mit ihm. Es ist deine eigene wahre Natur, dein Zuhause. … Die Visionen, die du hast, sind Ausge¬burten deines eigenen Bewusstseins.“
Die globalisierte Alltagswelt, die durch unsere Wahrnehmungen und Gedanken („Visionen“) konstituiert wird, ist demnach lediglich Ausgeburt unseres eigenen Bewusstseins, von der man sich „nicht in Bann ziehen lassen sollte“, wie es dort weiter heißt. Nicht dass sie nicht real wäre, doch ist die Welt des „reinen, klaren, weißen Lichtes“ in höherem Sinne wirklich, da ursprünglicher und unzerstörbar.

Auch das Evangelium kennt zwei Welten: die eine ist schlicht „die Welt“, gefangen in Sünde. Die andere ist das Reich Gottes. Es ist erlöste Schöpfung. Das Universum wird ja nicht dadurch zur Schöpfung, dass der Schöpfer den Urknall zündet, sondern so, dass er allen Dingen einwohnt: von ihm empfangen sie fortwährend ihr Dasein und Sosein, statt es egoman zu produzieren. Und erlöst ist die Schöpfung, wenn die Geschöpfe dieses Sich-Verdanken je nach ihrer Art vollziehen. „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir. Wir sind von Gottes Art.“ (Apg 17). Die Versöhntheit im eigenen Herzen, die dies bedeutet, äußert sich in der Versöhnung mit allen Wesen.

Wieso ich Euch das mitteile? Weil mich schon lange Zustand und Perspektiven der „Welt“ Schlimmes befürchten lassen. Die in der Alltagswelt nicht zu befriedende Zerstörung und Gewalt an so vielen Orten der Erde sind ein Indiz dafür, dass auch im Inneren des noch ruhigen Westens etwas schief läuft.

Die beiden Welten sind „unvermischt und ungetrennt“, um die christologische Formel zu benutzen. Das drückt auch das tibetanische Totenbuch aus. „Ungetrennt“ heißt: es handelt sich nicht um Parallelwelten, sondern die „Territorien“ und Wesen der beiden Welten sind die gleichen. „Unvermischt“ bedeutet, dass kein Teilchen der einen Welt identisch sein kann mit einem Teilchen der anderen Welt: der Übergang von der Alltagswelt zur wahren Wirklichkeit bedeutet eine Transformation. Wie geschieht sie? Die buddhistische Antwort ist eher methodischer Art. Die christliche weist auf die Bedeutung dessen hin, was geschehen muss: etwas im Menschen muss sterben, damit Neues entsteht. Damit ist nicht nur das Sterben am Ende des Lebens gemeint, sondern alle Tode im Leben, die gestorben werden, wenn man sich seinem Leben und seiner Wahrheit stellt. Das ist der Weg, den der Ashram Jesu zu gehen versucht.

Mit diesen ernsten Gedanken entlasse ich Euch nach den Ferien in den Alltag, hoffend Euch zu unterstützen, ihn zu bewältigen.