Bertram Dickerhof SJ, Februar 2021
Schon immer hat mich die sogenannte „Narrenrede“ (2. Kor 11,16 – 12,13) des hl. Paulus angezogen. Über den Jahreswechsel habe ich einen neuen Zugang bekommen zu dem Teil davon, in dem Paulus vom „Stachel im Fleisch“ spricht, an dem er sich reibt und den er partout loswerden will, – allerdings ohne Erfolg. Ihm geht vielmehr auf, worauf es in dieser Situation ankommt, als er vernimmt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (2. Kor 12,9).
Wir reiben uns an Corona und wollen es loswerden. Manche sind dadurch mit Krankheit, Tod und anderen Existenzängsten konfrontiert, andere mit Einsamkeit, Langeweile und Nutzlosigkeit. Da fühlt man sich schnell auch ungenügend und minderwertig, erst recht, wenn man nichts mit sich anfangen kann und alles Überwindung kostet. Wenn die Umstände unseres Lebens, unser Befinden oder unser Selbstgefühl nicht dem entsprechen, was wir erwarten oder uns wünschen, wenn sie uns sozusagen „stacheln“, beginnen wir fast automatisch uns umzuschauen und mit den Füßen zu scharren, ob wir etwas tun können, um diese loszuwerden und sind damit hintergründig fast dauernd beschäftigt. Ich plädiere hier nicht dafür, zu allem Missliebigen Ja und Amen zu sagen, sondern dafür, alles zu unterscheiden. Unterscheidung setzt allerdings voraus, die genannte Automatik zunächst einmal auszuschalten und d.h.: den Stachel zu erleben. Wenn es keinen Grund gibt zu handeln außer dem, das Störende wegkriegen zu wollen, weil es eben „stachelt“, erst recht, wenn das Störende gar nicht weggeschafft werden kann, dann wird auch uns gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“
Dieses Wort fordert mich und meinen Glauben heraus: wo ich nur Schwachheit sehen und erleben kann, besagt es Dreierlei. Erstens: Gott ist mit mir; gegen den Anschein ist das Entscheidende in Ordnung. „Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ fragt Paulus, um schließlich die Antwort selbst zu geben: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8, 31.38f), schon gar nicht gefühlte Schwachheit. Zweitens soll ich mich auf dieses Entscheidende besinnen und mir daran genügen lassen. Paulus erkennt nämlich den Sinn des Stachels darin, sich nicht zu „überheben“. Indem uns zuteilwird, was wir erstreben oder ersehnen, können wir uns groß, stark und sicher fühlen und die reale Schwäche des vielfach abhängigen, hinfälligen und sterblichen Menschen, der wir sind, vergessen. Wenn ich es mir an Gottes Gnade genügen lasse, integriert sich meine Persönlichkeit und ich muss mein Leben nicht mehr im Schwanken zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit zubringen. Daher ereignet sich, drittens, in diesem gefühlt missliebigen Zustand in Wahrheit Vollendung der Kraft Gottes in mir: ich werde ganz, befreit zu der Person, die ich bin und die aus ihrem eigenen Grund lebt: aus Gott und zugehörig zu Ihm.
Spontan betrachten wir die erlebte Schwachheit nur als Defizit, das wir nicht haben wollen, nehmen die Opferrolle ein, klagen und jammern oder bekämpfen die Störung, indem wir uns ablenken oder etwas gegen sie unternehmen. Die neue Sicht der Schwachheit, die uns hier angeboten wird, lautet: Richte Dich auf! An Dir ist nichts verkehrt, wenn Du Dich schwach fühlst. Dieser Zustand ist Teil der Wirklichkeit und wenn er Dir begegnet, nimm ihn an als Chance, vollendet zu werden. So wie auch die Heilbehandlung eines Arztes unangenehm, ja schwer auszuhalten sein kann, so ist Gott jetzt an Dir am Werk, um dich zu dir selbst zu befreien und mit ihm zu einen. Der Vergleich verdeutlicht, woher die Kraft dazu kommt: nicht aus dem Willen, so dass die Person sich zusammenreißt, sondern aus der Beziehung und dem Vertrauen zum Arzt bzw. zu Gott.
In dieser neuen Perspektive zeigt sich die Hingabe an das Handeln Gottes in der Schwachheit als wirkliche Stärke. Die Person lässt sich nicht vom Stachel treiben, weil sie keinen Sinn darin sehen kann und beherrscht ist davon, ihn wegzukriegen. Es ist Stärke, die im Vertrauen standhält und sich hingibt an Gottes Wirken, dabei frei wird und sich aufrichtet.