Bertram Dickerhof SJ, September 2020
Offenbar sind wir Menschen regelrecht beherrscht vom Streben nach Glück, auch wenn wir die Last des Besitzens spüren. In Indien habe ich verstanden, dass der Arme, der auf der Straße lebt, sich keineswegs mit der Freude der Armut begnügt, die der reiche Westler so sehr beneidet, sondern von einer Hütte im Slum träumt und danach von einer kleinen Wohnung in einem besseren Viertel. Derjenige, der ein Fahrrad hat, arbeitet für ein Moped, dann für ein Auto. Wer Arbeit hat, schaut sich nach einer auskömmlicheren und befriedigenderen Tätigkeit um… Ähnliches gilt auf der gesellschaftlichen und staatlichen Ebene. Eine unterdrückte Gesellschaft wie in Syrien oder in Belarus sucht Freiheit und politische Mitbestimmung. Die Wirtschaft tut alles, um uns zu verkaufen, was das Leben etwas bequemer, etwas angenehmer, bunter, abwechslungsreicher, gesünder – kurzum: glücklicher – zu machen verspricht. Auch ein Teil der Spiritualitätsbranche lässt sich hier einordnen. Dieses Streben nach Glück ist so stark, dass es sich über die Vernunft hinwegsetzt: wir sehen das in Zeiten von Corona am Umgang mancher Mitbürger mit der AHA-Regel, an der Ausbeutung der Natur und der Erde gegen die Grenzen des Wachstums und der Moral, da die reichen Länder die Ressourcen aufzehren, die den sich entwickelnden Ländern zustehen.
Dieses dauernde Glücksstreben kann ja nur so zu verstehen sein, dass das Glück, das auf diese Weise gefunden wird, nicht taugt. Es ist von kurzer Dauer: ist das Erstrebte erlangt, fühlt man sich satt und zufrieden. Schon bald beginnt das Auge jedoch unruhig herumzuschauen, was es denn nun noch Erfreuliches geben könnte. Und wenn dann etwas entdeckt ist, beginnt das Streben von Neuem. Das Glück des Habens weist noch einen weiteren Mangel auf: Es ist eigentlich ganz schnöder Lohn für die eingesetzte Arbeit. Es ist nichts weiter als ein Deal, für den man zahlt, und oft genug ist es nicht einmal ein guter Deal, weit entfernt davon, Würdigung des eigenen Wesens oder gratis gewährte Gabe des Lebens zu sein.
Wer dies durchschaut, fängt an, den Mangel an bleibender Erfüllung zu spüren. Einer Erfüllung, die wirklich je mich meint, die mich im Kern meines Menschseins würdigt und bejaht. Bleibende Erfüllung kann nur Geschenk sein und nicht Lohn. Sie kann also nicht angestrebt werden. Und sie bleibt. Sie liegt auf einer ganz anderen Ebene als Stimmungen, die glückliche und schlechte Stunden des Lebens in uns auslösen.
Doch wie kann eine solche Erfüllung gefunden werden? Da sie nicht durch Haben-Wollen zu erreichen ist, bleibt nur, die Hindernisse zu entfernen, die ihrem Empfang im Wege stehen, und zu warten. Diese Hindernisse bestehen vor allem in einem: in der Automatik, das Gefällige zu erstreben und das Missfällige zu vermeiden. Dieses Gesetz hat eine Voraussetzung und eine Konsequenz. Es setzt voraus, dass sich wahre Erfüllung herstellen lässt – in einem Leben, das auf den Tod zu lebt: ein Irrtum. Die Befolgung dieses Gesetzes zieht eine Knechtsmentalität nach sich, da der Mensch sich selbstverständlich dafür gebraucht, die Zwecke zu erreichen, die es ihm vorgibt. Dieses Hindernis zu entfernen und umzukehren, bedeutet dann, statt sich zu gebrauchen, sich selbst liebevoll zuzuwenden, in Kontakt zu treten mit dem Menschen, der ich selbst bin. Diese Zuwendung wird vermittelt durch die Wahrnehmung der Wirklichkeit, die hier und jetzt da ist, und die auch dasein darf, gleich ob sie gefällt oder missfällt. Offensichtlich ist diese Umkehr nur auf einem täglich gegangenen Weg möglich. Das Gebet ist der Ort, an dem die Wirklichkeit hier und jetzt mir innewird. Im Gebet wird eingeübt, was dem Empfangen der wahren Erfüllung dient: Liebevolle Zuwendung zu dem Menschen, der sich selbst sein lässt. Demut als Annahme der Wirklichkeit, wie sie ist. Gehorsam gegenüber dem, was sich dem Betenden als sein Handeln in der gegebenen Situation zu erkennen gibt. Vertrauen, Geduld… So gehen der Beterin/dem Beter die Augen auf für die Erfüllung, die bleibt.
Welches Glück diese für den Menschen bedeutet, lässt sich nicht in Worten ausdrücken. Doch hat die bleibende Erfüllung damit zu tun, dass der Mensch befreit wird zu seinem wahren Selbst, mehr und mehr aus seinem Grund, der der Grund aller Wirklichkeit ist, leben kann und entdeckt, dass dieser Grund unbedingte Liebe ist, in deren Gegenwart er lebt, weil er sie in allem entdeckt, auch im Leiden.