Alfons Gierse, Dezember 2022
Unsere Tochter hat sich nach langem Ringen vor eineinhalb Jahren von ihrem Mann getrennt. Die Scheidung steht kurz bevor. Doch möchte ich an dieser Stelle nicht über das Scheitern von deren Ehe schreiben, sondern vielmehr über mein eigenes Ringen und Scheitern. Ich möchte über die Krise sprechen und reflektieren, in die mich dieses Ereignis hineingestürzt hat.
Als Eheberater habe ich tagtäglich mit den Krisen von Paaren zu tun und kann damit in professioneller Weise umgehen. Die sich abzeichnende Beziehungskrise unserer Tochter und unseres Schwiegersohnes hat mich dagegen mit einer inneren Lähmung und Handlungsunfähigkeit konfrontiert – hin- und hergeworfen zwischen der Weigerung, das was ist, zu akzeptieren und der immer wieder aufkeimenden Hoffnung, dass die Beziehung dennoch weitergeht. Das endgültige Aus schließlich war für mich wie ein Katalysator für ein unentwirrbar scheinendes Gemisch unterschiedlicher Gefühle und Stimmungen: Traurigkeit, Ärger, Wut und Enttäuschung, Solidarisierung mit dem Schwiegersohn, Abwertung der eigenen Tochter, insgeheimen Erwartungen und Vorwürfen. Und wo ich diese Zeilen schreibe komme ich erneut in Kontakt mit dem Gefühl der Scham, all dies in der Weise gefühlt – und vor allem aus den Gefühlen heraus gehandelt zu haben. Biografisch erlernte Strategien und Muster der Stressbewältigung und Beziehungsgestaltung lebten neu auf, mich davon zu entkoppeln war mir nicht möglich. Ich steckte fest im Widerstand, einem Widerstand, der nach außen hin dem Ende der Ehe „unserer Kinder” galt, der sich nach und nach jedoch als Widerstand nach innen entpuppte, die eigenen Erwartungen und Projektionen aufzugeben.
Das Scheitern ihrer Ehe konfrontierte mich mit dem Scheitern meiner eigenen Ansprüche und Zuschreibungen, mit dem Scheitern dessen, was ich für sie angestrebt, gesucht, ersehnt und erhofft hatte. „Wir haben so viele Krisen und schwere Zeiten gemeinsam durchgestanden und ihr gebt so schnell auf” – Das Scheitern ihrer Ehe brachte das mögliche aber als Möglichkeit ausgeblendete Scheitern der eigenen Ehe schmerzhaft ins Bewusstsein. Risse und Brüche taten sich auf: Zwischen mir und meiner Tochter auf der Beziehungsebene; zwischen dem Theologen, der vor 25 Jahren über den barmherzigen Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen geschrieben hat (was ihm fast den Job gekostet hätte) und dem Vater, der es nicht fertigbringt, diese Theorie praktisch werden zu lassen.
All das sickerte allmählich im meine bewusstere Wahrnehmung, hob aber mein Dilemma nicht auf, in dem ich steckte – oder besser meinte zu stecken: Entweder ich gebe meine eigenen Geltungsansprüche bzgl. einer (aus dem Glauben gelebten) Ehe auf und gehe neu in Beziehung oder ich bleibe bei meinen inneren Bildern und Vorstellungen und verrate die Beziehung. Wie kommt man aus einem solchen Dilemma heraus? Nicht durch unbekümmerte Suche oder durch theoretische Gedankenspiele. Auch nicht in Form theologischer Reflexion, die in und aus abgeklärter Ruhe entsteht und darin verläuft. Die Wende kam nicht aus eigener innerer Kraft, aber auch nicht einfach von außen durch eine Handlungsanweisung. Die Wende ereignete sich. Sie ereignete sich nach einem gemeinsamen Frühstück mit meiner Frau in der Küche im Türrahmen zum Hauswirtschaftsraum, die Türklinke in der Hand, die Tasche gepackt für den Weg zur Arbeit. „Es” schüttelte mich durch und durch, ein körperliches Beben bis zur Erschöpfung, das Hemd durchnässt von Tränen und Schweiß. Die ganze psychische und physische Not brach sich Bahn – gehalten von und in den Armen meiner Frau. Ich hatte das Gefühl, als würde der Stein vom Grab weggerollt, als öffnete sich dahinter ein Raum, in dem es möglich sein würde, die Dinge anders zu sehen und ggf. neu handzuhaben. Heute würde ich sagen, die Wende zum Neuen kommt nicht aus eigener Kraft, ist kein Entwurf und kein Projekt, über das ich souverän verfügen kann. Die Wende zum Neuen trägt sich zu, stellt sich ein, wird geschenkt – und zwar da, wo ich im Bewusstsein des Widerstands zum Grab gehe, wie Bertram es in seinem Buch schreibt. Die Frauen am Ostermorgen oder die Jünger auf dem Weg nach Emmaus geben dem Scheitern Raum und inmitten dieser „Raumgabe” geschieht die Wende zum Neuen, die den bisherigen Rahmen übersteigt – „Auferstehung”.
Mit innerem und äußerem Abstand kann ich sagen, dass diese Erfahrung meine Sicht auf viele Dinge noch einmal verändert hat. Das betrifft zunächst das Gottesbild: Gott steckt oder ereignet sich inmitten der Lebenswenden im Tod des Scheiterns. Gott ist kein Gott souveräner Erfolge. Sein Ort ist der Raum, der sich im Scheitern öffnet und in dem in dem sich neue Lebens- und Beziehungsmöglichkeiten erschließen.
Menschlich leben heißt nicht, eine souveräne, unverwundbare Identität aufzubauen, sondern in befreiender Weise neue kreative Lebensmöglichkeiten in und aus Scheitern zu entdecken und dadurch herrschende Raster in Frage zu stellen, die über die Anerkennung von Menschen entscheiden.
Es geht in Kirche und Welt um jenes andere „neue” Leben, das möglich wird durch wahre Begegnung jenseits von theologischen, moralischen oder gesellschaftlichen Rastern; um Beziehungen, die mich tiefer an die Wirklichkeit der Anderen bindet, als mir zuvor bewusst war oder ich es zulassen konnte.
Ein paar abschließende Gedanken zu dem Bild: Bei einem meiner Spaziergänge während unseres Sommerurlaubs ganz im Norden von Rügen stand ich vor diesem Stein – und ich wusste, dass dies das Bild für den Oktober-Newsletter ist. Da ist etwas unwiderruflich zerbrochen. Es gibt kein Zurück in eine zuvor existierende Ganzheit. Beide Teile tragen in den Flechten Spuren einer gemeinsamen Wirklichkeit, die wie ein Narbengewebe anmuten. Ein kleines Dreieck überragt den Spalt – Sinnbild einer tastend-zaghaften Wiederannäherung.