Bertram Dickerhof SJ, Mai 2022
Aus kleinen Anfängen in den Wohnungen der ersten Christen sind in unseren Breiten staats- und moraltragende Volkskirchen geworden. Nun läuft ihnen jedoch nicht nur das Volk davon. Nur noch sehr wenige Menschen treten in einen Orden ein oder wählen eine kirchliche Laufbahn, weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis in der Fläche die Glocken nicht mehr läuten, die Lichter religiöser Angebote ausgehen, die Kirchen leer stehen und verfallen. Es braucht eben Menschen, die Verantwortung übernehmen und sich engagieren. War es vor allem das, was an Pfingsten geschah? Dass aus Schülern, Fischern zumeist im Erstberuf, keinen Theologen, die zudem den Meister zu dessen Lebzeiten nur anfänglich verstanden hatten und durchaus Anstoß an ihm nahmen, Menschen wurden, die sich in der Öffentlichkeit hinstellten mit einer Botschaft, die den Widerspruch der Eliten und vieler Volksgenossen hervorrufen musste, und sich um diejenigen sorgten, die sich ihnen anschlossen.
Vor dieser Geburtsstunde der Bekenner und Verantwortungsträger am Pfingsttag hat der Geist Gottes jedoch schon lange im Verborgenen geweht. Sein Wirken beginnt damit, dass die Unruhe, die in jedem Menschen lebt, zu Bewusstsein kommt als nicht zu stillende Sehnsucht. So wird es auch in denen gewesen sein, die zu Jesu Jüngern wurden, weil sie ihn als jemanden erfuhren, der „Worte ewigen Lebens” hatte. Er wird ihr Lehrer, ihr Meister. Sie folgen ihm durch Durststrecken und Krisen und erkennen in ihm schließlich den Messias. Um so mehr blicken sie auf ihn, ihr leibliches Gegenüber. Sie schauen nach außen und vergessen dabei sich selbst und ihre Gefühle. Sie fragen nicht nach, als er von seinem Tod und seiner Auferstehung spricht, obwohl sie ihn nicht verstehen und nehmen weder ihre Ambivalenz ihm gegenüber noch ihre Angst ernst. Doch im Äußeren kann die Erfüllung der Sehnsucht des Herzens nicht gefunden werden. Es braucht die Wende nach innen und das Durchleben des Inneren. Das aber ist eine Lektion, die nur durch Erfahrung gelernt werden kann. Die Hinrichtung Jesu als Gotteslästerer stürzt die Jünger in eine Krise, die sie mit den Bewegungen ihres Herzens konfrontiert, ob sie wollen oder nicht: Trauer und Wut, Angst und Schuld, Scham und Ohnmacht, Gefühle, an denen sie schwer tragen oder die aus ihrer Sicht gar nicht sein dürften. Lukas ist es wichtig, uns darauf hinzuweisen, dass die Jünger nach Jesu Tod fünfzig Tage lang am selben Ort bleiben, wo ihnen der Auferstandene erscheint, zu ihnen vom Reich Gottes spricht und mit ihnen Mahl hält. Nach seiner Himmelfahrt bleiben sie im Gebet versammelt. Was kann das anderes bedeuten, als dass sie in dieser Klausur ihr Inneres durchleben und dem, was sie dort vorfinden, standhalten; dass ihr Erleben durch Schicksal und Lehre Jesu gedeutet wird und dass sie so ihrem wahren Selbst begegnen, in dem sie den auferstandenen Gekreuzigten wiedererkennen? Die Feier der Eucharistie und das Gebet sind die zwei Pfeiler der Praxis des Innehaltens und Seiner-Selbst-Innewerdens. Diese Praxis öffnet die „Täler und Tiefen des Herzens, in denen der Geist Gottes Raum finden kann” (Tauler). In der Erfahrung des Trostes, des Friedens und der Freude, die der Geist schenkt, liegt die Kraft, dem Sog der sichtbaren Welt mit ihrer Faszination, ihren Sorgen, ihren Zerstreuungen, ihrer Vergessenheit des Todes nicht zu erliegen. Nur durch Erfahrung bekommt die Welt Gottes Gewicht. Und dann kann der Mensch die Einladung vernehmen, das zu teilen, was er erfahren hat. Wer es wagt, sein gefühlt Zuweniges auszuteilen, erlebt das Wunder der Brotvermehrung: dass das anscheinend Ungenügende genügt, um den Hunger anderer zu stillen. Dann ist es offenkundig Pfingsten geworden.