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Innehalten

Bertram Dickerhof SJ, September 2022, September 2022

Die TeilnehmerInnen an unseren Jahreskursen wie z.B. der Spirituellen Spurensuche richten in ihrer täglichen Routine eine halbe Stunde des Innehaltens und Innewerdens ein. In dieser stillen Zeit üben sie etwa 20 Minuten Meditation und 10 Minuten Betrachtung eines geistlichen Textes. Nach einiger Zeit zeigen sich ihnen Auswirkungen dieser Praxis auf ihren Alltag:

Sie erzählen dann, dass es immer wieder vorkomme, dass ihnen in der Meditation eine Idee einfällt, wie sie mit einem Problem, das sie umtreibt, umgehen können. Diese Idee sei nicht nur ein Gedanke und eine Möglichkeit, sondern sie „durchfahre” ihre ganze Person so konkret, dass sie die Umsetzung nicht überlegen müssen, sondern sie aus ihrer Personmitte heraus einfach vollziehen. Manchmal koste es Mut und Vertrauen, dieser Eingebung zu folgen. Aber sie fühlten sich identisch mit sich selbst dabei; es „stimme” einfach. Oft habe dies die Lösung gebracht oder zumindest vorbereitet.

Ebenfalls sprechen sie von einem Puffer, den die Stille Zeit errichte zwischen ihrer Person und den Kräften, die im Alltag auf sie einwirken. Durch diesen Puffer haben sie Abstand zu den Geschehnissen, und das sei sehr gut. Sie können nämlich dadurch den Ereignissen mit größerer innerer Gelassenheit und Freiheit begegnen, statt aus den eigenen Mustern auf sie reagieren zu müssen. Dieser Abstand verändere auch ihr Verhalten in Beziehungen. Da sie aber ihrer selbst und ihrer inneren Bewegungen bewusster seien, verlören sie sich weniger in Rivalität oder Identifikation mit dem Gegenüber, mit dessen Gefühlen und Erwartungen. Sie seien sich deutlicher ihrer selbst, ihres Gegenübers als Anderem und der Beziehung zwischen ihnen beiden bewusst.

Diese Erfahrungen der TeilnehmerInnen bestätigen die Erfahrungen mit der täglichen Zeit der Stille, die ich vor fast 50 Jahren begonnen habe. Diese Praxis hat den Grund gelegt, aus dem mein Leben und mein Glaube gewachsen sind. Ohne eine Praxis des Seiner-selbst-Innewerdens hängen die Formeln des Glaubens quasi in der Luft: „Gott ist unbedingte Liebe” – wunderbar, aber wo wird das erfahren? Der Zustand der Welt lässt dieses Urteil ja nicht ohne weiteres zu. „Wir sind Kinder Gottes” – großartig, doch wenn dieses Selbstverständnis nicht Fleisch bekommt und mehr und mehr unser Sein prägt, dann hat das Ethos des Evangeliums im Alltag wenig Chance auf Verwirklichung. Religion verfällt dann zu einer Inszenierung Gottes. Meister Eckhart kennt dieses Problem. Er unterscheidet zwischen einem Gott, der durch Worte oder liturgische Vollzüge „da” ist, und einem Gott, der dem Menschen innerlich ist und sein Wesen durchseelt. Er schreibt dazu in den Reden der Unterscheidung (Nr. 6):

„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn, wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. … Wer Gott so, d.h. im Sein, hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar. In ihm glänzt Gott allzeit, in ihm vollzieht sich eine loslösende Abkehr und eine Einprägung seines geliebten, gegenwärtigen Gottes.” In der Übung der Meditation, im Gewahrwerden seiner selbst und im Loslassen der Anteile seiner selbst, die der Wirklichkeit widersprechen, die sich hier und jetzt enthüllt, wird Gott dem Menschen wesentlich.

Auf diese „loslösende Abkehr” vom Lebensstandard und -genuss der letzten 50 Jahre wird es ankommen in der Wirklichkeit der Zeitenwende, in der wir durch Klimakatastrophe, Krieg, Teuerung, … stehen. Die Umkehr wird eher zu bewältigen sein, wenn uns „alle Dinge nach Gott schmecken” und wir in allen Unsicherheiten, Verlusten und vielleicht auch Leiden vom Glanz Gottes durchdrungen sind.

So werde ich nicht müde, Euch zu empfehlen, auch in Eurem Alltag eine Zeit der Stille einzurichten.