Bertram Dickerhof SJ, Januar 2017
Viele zum Teil sehr persönliche Rückmeldungen aus der virtuellen Meditationsgemeinschaft im Advent, bestätigten das „besondere Gefühl“, in einer solchen Gemeinschaft zu sitzen, bzw. mit anderen bewusst Entschiedenen „zusammen in der Adventszeit einen Gebetsweg zu gehen“ bzw. „unterwegs zu sein.“ Den Morgen anzufangen im bewussten Kontakt mit dem Menschen, der ich selber bin, habe Wirkung auf den gesamten Tag: „Ich spüre, wie gut es mir tut, den Tag zu beginnen, indem ich innehalten darf… Ruhiger geht es dann, entspannter, gelassener und offener für das, was mir begegnet, … und ich merke immer wieder, wie wichtig Struktur (hier die feste Zeit) für mich ist.“
Diese Erfahrung ist keine singuläre. Die 15, 20 Minuten solchen Innehaltens am Morgen sind wie eine Verankerung: Ich weiß um mich, spüre mein Befinden, meine Wünsche und Gefühle, das mir Wichtige. Vielleicht komme ich sogar in einen wirklichen Kontakt mit mir selbst und erlebe mich dabei gewollt und geliebt in einem absolut offenen Raum: „Das tägliche Gebet/ Meditieren ist mein Lebenselixier. Ich kann mir meinen Alltag überhaupt nicht vorstellen ohne diese Rückbindung an Gott….“ Verankert lebt man dann seinen Tag, das Gute und das Schlechte, aus einem tiefen Grund, aus Gottes Grund.
Wer das nicht tut, der ist den an der Oberfläche herrschenden Kräften preisgegeben: der Überforderung; den verlockenden spiegelnden und bunten Oberflächen, die einen wegführen von sich selbst; der Verunsicherung durch immer mehr und immer schwieriger zu lösende Fragen unserer globalen Welt; der Angst, wie es mit diesem Planeten und seinen Bewohnern weitergeht.
Auch dieses neue Jahr wird bewältigt werden müssen. Was an der Oberfläche an Wünschen und Phantasien entsteht, taugt dafür jedoch nichts … – so sagt es Hilde Domin’s (1909 – 2006) Gedicht, das wir im Silvesterkurs gelesen haben:
BITTE
Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,
wir werden durchnäßt
bis auf die Herzhaut.Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht,
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben,
taugt nicht.Es taugt die Bitte,
daß bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
daß noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden.Und daß wir aus der Flut,
— Hilde Domin
daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
Die schwierigen Stunden des Lebens werden uns versehren, wenn wir sie überhaupt an uns heranlassen und uns nicht ablenken; dass sie uns versehren und zugleich „immer heiler zu uns selbst entlassen werden“, wir also mehr wir selbst werden, mehr in uns selber gründen, das ist ohne Zeiten des Innehaltens nicht zu erfahren. Mir ist es ein großes Anliegen Euch zu sagen: nehmt Euch Zeit zum Innehalten! Aus Liebe zu sich selbst. Jeden Tag 15 oder 20 Minuten früher aufstehen, Morgentoilette, und dann gleich in Kontakt gehen mit der eigenen Wirklichkeit vor Gottes, “ … um immer versehrter und immer heiler stets von neuem zu sich selbst entlassen zu werden.“