Bertram Dickerhof SJ, September 2016
Die Tage werden spürbar kürzer. Unsere Morgenmeditation beginnen wir schon seit einiger Zeit in tiefer Dunkelheit, und es dunkelt wieder, wenn wir zur Abendmeditation hinaufsteigen. Manchmal brennt schon die Kerze, sonst ist alles dunkel. Wie kostbar ist doch das Licht! Im Koran, beschreibt Mohammed eine Vision von Gott als Licht:
„Gott ist das Licht der Himmel und der Erde.
— Koran, Sure 24
Sein Licht ist einer Nische vergleichbar, in der eine Lampe ist.
Die Lampe ist in einem Glas.
Das Glas ist, als wäre es ein funkelnder Stern.
Es wird angezündet von einem gesegneten Baum, einem Ölbaum,
weder östlich noch westlich, dessen Öl fast schon leuchtet,
auch ohne dass das Feuer es berührt hätte.
Licht über Licht. …”
Wir haben diesen wunderschönen Text in einer Schriftbetrachtung gelesen. „Licht über Licht.” Seine geheimnisvolle Quelle, einfach und verehrungswürdig, ist jedoch nicht unmittelbar zu erfassen. Nur ihren Widerschein sehen wir, nur die vom Licht erfüllte Nische. Wie diese Nische ist die ganze Schöpfung von Gottes Licht und Glanz durchflutet. Doch die Schöpfung verhüllt ihn zugleich. Anders gesagt: Alltag, Mühen, Glück und Unglück, Freude und Leid: alles ist Kleid des Lichtes, – auch der Tod.
Hin und wieder uns gewöhnlichen Menschen eine solche Gipfelerfahrung vergönnt. Halten lässt sie sich nicht. Doch sie stärkt die Sehnsucht, in dieser Letzten Wirklichkeit zu leben. Wie? Der Koran fährt so fort, dass „weder Handel noch Kaufgeschäft [diese Menschen] ablenken vom Gedenken Gottes, von der Verrichtung des Gebets und der Entrichtung der Abgabe, [dass sie] einen Tag fürchten, an dem Herzen und Augenlicht umgekehrt werden…” „Handel und Kaufgeschäft” war der Alltag des Mekkaners von damals. Es geht also um Menschen, die einen Alltag mit all seinen Anforderungen zu bewältigen haben, jedoch nicht so in dessen Dynamiken verstrickt sind, dass sie auf das Gedenken Gottes vergäßen und die religiösen Pflichten unterließen. Das dauernde „Gottesgedenken” – der „dikhr” – ist der Pfad des islamischen Mystikers. Er beginnt bei der Disziplin der täglichen Gebetszeit(en) und entwickelt sich zu einem dikhr im Herzen, der sich schließlich selbst dabei vergisst. Diese Strophen von der „Höchsten Vollendung” weisen in eine ähnliche Richtung:
„Vergessenen des Geschaffenen
— Johannes vom Kreuz
Gedenken des Schöpfers
Gerichtetsein auf das Innere
und leben in der Liebe des Geliebten.”
Abstand zu den Alltagsgedanken also, offen und unvoreingenommen dasein im Kontakt mit dem Inneren; dabei von Liebe erfüllt werden, aus der das Leben gelebt wird. Eine starke Hilfe dabei ist das Bewusstsein des Todes, „an dem Herzen und Augenlicht umgekehrt werden”. Im Tod geschieht endgültig, worum der Mensch sich täglich bemühen soll: Augen und Aufmerksamkeit werden nach innen gerichtet statt nach außen, und das im Herzen Verborgene wird offenbar. Die Freiheit, über den Tellerrand des Eigenen hinauszublicken und Verantwortung für das Ganze des Lebens zu übernehmen, wird alles entscheiden. Lasst uns das nicht vergessen!