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Die innere Präsenz

Petra Maria Hothum SND, Januar 2022

„Es gibt eine Kraft, die dir das Leben schenkt – suche sie. Im Innern deines Leibes ruht ein kostbarer Schatz – suche ihn. O Wanderer, wenn du den großen Schatz zu finden trachtest, sieh dich nicht draußen um; blicke in dich hinein und suche ihn.”
Rumi

Seit sie mir zum ersten Mal begegnet sind, haben diese Verse des Sufi-Mystikers und Dichters Rumi eine unmittelbare Anziehungskraft auf mich ausgeübt, bergen sie doch eine ungeheure Verheißung in sich. Rumi spricht von einer Kraft, die Leben schenkt, von einem kostbaren Schatz, der im eigenen Inneren ruht. Und so wie er es beschreibt, ist diese innere Wirklichkeit bereits DA; sie muss nicht erst geschaffen, irgendwie hergestellt werden, und sie scheint unabhängig zu sein von dem, was im Außen sich abspielt und von dort aus auf den Menschen einwirkt. Jedoch: dieser „Schatz” im Innern ist nicht unmittelbar zugänglich, zumindest nicht, solange unsere Aufmerksamkeit ganz im Außen und an der Oberfläche verhaftet ist. Rumis Einladung, den inneren Schatz zu suchen, verstehe ich allerdings nicht als Aufruf zu einer totalen Abkehr vom Außen, als Aufforderung, die Augen vor der uns umgebenden Wirklichkeit zu verschließen. Ich höre seine Worte eher als ein Werben, sich in all dem, was so unmittelbar auf uns Menschen einwirkt und uns oft genug vollständig gefangen nimmt, nicht zu verlieren, sondern durch die Einkehr bei sich selbst und die Hinkehr zum Inneren den Kontakt zu finden zu einer Kraft, die uns wahrhaft Leben schenken kann – inmitten von allem, was ist, gerade auch inmitten aller verunsichernden, bedrängenden, herausfordernden äußeren Wirklichkeit. Diese Kraft, von der hier die Rede ist, lässt uns nicht über den Dingen, über den Anforderungen des Außen stehen, sie enthebt uns nicht all der Mühen, Sorgen und Kämpfe in den Niederungen und Unwägbarkeiten des Lebens. Es ist vielmehr eine Kraft, die uns erdet, uns auf dem Boden der – eigenen, gesellschaftlichen, globalen – Wirklichkeit ankommen lässt, uns befähigt zu echter Begegnung mit dem, was ist, und zu einem Handeln, das aus dem Prozess dieser Begegnung erwächst. Diese Kraft hat damit zu tun, in einen Raum der Präsenz, einen inneren Raum des Sein-Könnens und -Dürfens einzutreten und darin zu verweilen. Wenn sich uns dieser Raum eröffnet, ist dies ein wahrhaft kostbarer Schatz – er ist es immer, besonders jedoch in Zeiten der Verunsicherung, der Krise und des Umbruchs wie der unseren. Er gewährt einen gewissen Abstand zu den äußeren Geschehnissen und den damit verbundenen Empfindungen, lässt uns diese zugleich aber unmittelbarer betrachten und sie wahrnehmen in all ihren Facetten, ohne um jeden Preis reflexartig reagieren zu müssen. Er ermöglicht Zulassen, Gewahren und Durchleben der inneren Bewegungen, eröffnet einen Weg, diese zu unterscheiden und so zu freierem, von innen heraus gewachsenem und verantwortetem Agieren und Gestalten zu finden – in den jeweiligen äußeren Gegebenheiten mit ihren Möglichkeiten und mit ihren Grenzen.

Möge es uns in den Herausforderungen dieser Zeit geschenkt werden, immer wieder der Einladung nach innen zu folgen und uns vertrauensvoll einzulassen auf die Kraft, die wahrhaft Leben schenkt und uns von innen heraus Schritt für Schritt unseren Weg weist und gehen lässt inmitten aller Brüchigkeit und Unsicherheit im Außen!