Petra Maria Hothum SND, Oktober 2018
Es hat sich gefügt, dass ich bin und schaue. …
— Wislawa Szymborska
Bei solch einem Anblick verlässt mich stets die Gewissheit,
dass das Wichtige wichtiger ist
als das Unwichtige.
An diese Gedichtverse der polnischen Lyrikerin Wislawa Szymborska musste ich denken, als ich vor ein paar Tagen am schmiedeeisernen Hoftor des Ashram Jesu unzählige Spinnennetze entdeckte, die mit Tauperlen übersät waren. Ich blieb stehen, schaute und bestaunte dieses filigrane Kunstwerk, die verschwenderische Fülle im scheinbar „Unwichtigen”, die sich meinem Auge bot. Sie war wunderbar, ließ sich allerdings nicht annähernd in ein Foto bannen, wenngleich ich einem Versuch nicht widerstehen konnte. Diese Schönheit und Pracht war einfach nur da, um in diesem Augenblick in Augenschein genommen zu werden, um hier und jetzt den zu berühren, der ist und schaut oder besser vielleicht gesagt: dem sich im Schauen eine Ahnung von unbedingtem Sein-Dürfen vermittelt.
Eine solche Schönheit und Fülle lässt sich weder halten, noch hat sie für den Betrachter einen greifbaren Nutzen. Das, woraus sie besteht, hat keinen materiellen Wert, ist völlig unspektakulär. Ja, unter dem Blickwinkel der Funktionalität erscheint sie sogar als störender, lästiger Schmutz, den es zu entfernen gilt, um die gepflegte Fassade wieder herzustellen. Und im Blick auf den gesellschaftlichen Trend hin zum Schneller, Weiter, Höher, Größer, Spektakulärer … fällt sie komplett durch.
Und dennoch war dieses morgendliche Erleben für mich ein Geschenk mit nachhaltiger Wirkung:
- So hat es Erinnerungen geweckt an vergleichbare Momente, auch in meinem noch nicht sehr lange zurückliegenden Urlaub, wo es oft nicht so sehr die großen, prächtigen Fassaden, ausgewiesene Kunstwerke oder gewaltige Naturereignisse waren, die zu diesem Sein und schauenden Innehalten führten, sondern vielmehr kleine „Unwichtigkeiten” und Gewöhnlichkeiten, die mich in ihren Bann zogen und zum Verweilen einluden, die mich einfach da sein ließen, eine mitunter unerwartete Freude in mir weckten und mich innerlich erfrischten.
- Es brachte einen Fragenkomplex zum Klingen, der mich immer wieder einmal bewegt: Was ist wirklich wichtig? Was hat eigentlich Bedeutung? Worin liegt wahre Lebensfülle? … Und ich merkte, wie immer wieder Antwort-Facetten in mir aufstiegen, die das Erleben am Ashram-Tor umschrieben. Sie haben zu tun mit dem Wahrnehmen-Können des Feinen, Leisen, Übersehbaren, dem schauenden Verweilen-Können bei dem, was man so nie gesucht und vielleicht auch nicht gewünscht hätte, weil es zu mickrig, gewöhnlich oder unzulänglich erscheint. Sie geben der Erfahrung Ausdruck, dass sich gerade darin unmittelbares Berührt- und Erfülltwerden ereignen und eine Qualität von unbedingtem Sein-Dürfen im Hier und Jetzt erschließen kann, ein Einklang und Einverständnis mit sich und dem, was ist.
- Es erfüllte und erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, dass auch im Blick auf mich selbst die Aufmerksamkeit gerade auf die kleinen, scheinbar unbedeutenden oder vielleicht sogar unzureichenden, störenden inneren Regungen einen großen Reichtum eröffnen kann. Im Verweilen bei solchen Regungen wird mir Schritt für Schritt ein Weg gewiesen mehr zu mir selbst, zu dem Menschen, der ich in Wahrheit bin und sein soll, zur Fülle des Seins und der Liebe, „die die Wirklichkeit auf ihrem Grund durchseelt”, wie Bertram es in seinem letzten Newsletter ausdrückte.
„Es hat sich gefügt, dass ich bin und schaue.” – Sein, Schauen, Verweilen, das ist es, wozu der Ashram Jesu einlädt, oder mit den Worten gesagt, in denen wir unsere Meditations- und Lebensweise gerne zusammenfassen: „Verweilen in der Wahrnehmung dessen, was ich von mir hier und jetzt merke – achtsam, gelassen, liebevoll.” Aus diesem schauenden, hörenden Dasein erwachsen Schritte auf dem Weg zum wahren Selbst. Zutiefst ist dies Geschenk, das wir nicht machen können. Aber wir können und dürfen der Sehnsucht danach einen Raum bereiten. Unterstützung dabei bieten auch die Kurse, Veranstaltungen und regionalen Gruppen des Ashram Jesu.