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Sich selbst sein lassen
Petra Maria Hothum SND, Dezember 2021
Wer unseren Programm-Flyer aufschlägt, kann dort als erstes folgenden Satz lesen: „Im Ashram Jesu geht es um die Übung, sich selbst sein zu lassen.“ Diese Aussage steht sozusagen als Überschrift über allem, was an Inhalten und Kursangeboten folgt; sie fasst wie in einem Brennglas zusammen, was wir hier zu leben und zu vermitteln versuchen. „Sich selbst sein lassen“ – für manch einen mag dies zunächst einfach, ja vielleicht nach einer Selbstverständlichkeit klingen. Doch wer genauer bei sich selbst hinschaut bzw. wer sich auf das Üben im Ashram Jesu einlässt, der merkt schnell, dass dies mitnichten der Fall ist. Sich selbst sein zu lassen hat entscheidend damit zu tun, bei sich selbst einzukehren, der eigenen Wahrheit inne zu werden und bei ihr zu verweilen – auch dann, wenn sie unangenehm, schmerzlich oder diffus ist und nicht den eigenen Vorstellungen und Wünschen entspricht. Sich auf diese Wendung nach innen einzulassen, ist alles andere als selbstverständlich. Der Normalfall ist vielmehr, dass unsere Aufmerksamkeit im Außen verhaftet bleibt und sich wie automatisch darauf richtet, bei Unangenehmem, Fehlendem, Verbesserungsbedürftigem schnelle Abhilfe zu schaffen. So sind wir vielfach damit beschäftigt, an uns, unseren Gegebenheiten und unserem Umfeld herum zu „schrauben“ und Einschränkungen und Grenzen, denen wir begegnen, möglichst zu überwinden. Wir ergehen uns in Vorstellungen, wie wir selbst, wie unsere Bedingungen, Beziehungen … sein sollten, wie unser Leben zu sein hätte, und entsprechend überlegen und planen wir, suchen nach Lösungen, streben immer neu Erfüllung in dieser Welt an und setzen viel dafür ein, sie zu erlangen – ohne je damit an ein Ende zu kommen. Der Preis dafür ist das Eingebunden-, ja Gefangensein in einem Hamsterrad, das uns letztlich am Kontakt mit unserem Innern hindert. Es hindert uns daran, hier und jetzt sein, hier und jetzt wirklich leben zu können als die Person, die wir in Wahrheit sind mit den uns gegebenen Möglichkeiten und Grenzen.
Der Sufi-Mystiker Rumi schreibt in einem seiner Gedichte: „Ich lebe in einem Gefäß namens Leben;ich lebe nur, weil meine Seele nicht geflohen ist.“ An Weihnachten feiern wir, dass der Sohn Gottes sich in das Gefäß namens Leben hineingegeben hat, in die Gesetzmäßigkeiten und Grenzen irdischen Daseins. Er hat wahrhaft in diesem Gefäß gelebt, weil seine Seele – gegründet und aufgehoben in einer alles umfassenden Liebe – nicht geflohen ist, sondern im Kontakt blieb mit dem eigenen Inneren bis hinein in den Tod. So ganz und gar eingelassen auf die Wirklichkeit, so sich selbst sein lassend in allem, war und ist sein Weg von innen her erlösend.
Möge Jesu Menschwerdung uns gerade in diesen äußerlich bedrängenden und kritischen Zeiten einladen, uns einzulassen auf den Weg nach innen und uns ermutigen, nicht zu fliehen vor dem, was ist. Mögen wir in der Begegnung mit unserer Wahrheit und im Bleiben dabei immer mehr zu den Menschen werden, die wir in Wahrheit sind, zu Menschen, die sich selbst sein lassen können – im Vertrauen auf den Grund aller Wirklichkeit, der Liebe ist.
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Das Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus
Bertram Dickerhof SJ, September 2021
Viele Menschen spüren, dass wir in einer Zeitenwende leben. Die extreme Hitze der zurückliegenden Wochen in Griechenland und der Türkei, die heftigen Waldbrände in Süd-Europa, Australien, Amerika, das anhaltend unbeständige Schmuddelwetter der letzten Wochen hierzulande, die Flutkatastrophen vor allem an Ahr und Erft, gewissermaßen vor unserer Haustür, mit schrecklichen Toden und schlimmen Bildern der Verwüstung, haben aus einer abstrakten Umstellung der fossilen auf erneuerbare Energieträger die bedrückende Perspektive gemacht, in Zukunft mit mehr und schlimmeren Extremwetterereignissen und ihren konkreten Folgen für sich selbst, seine Familie und sein Eigentum leben zu müssen. Dazu kommen Zweifel: ob denn die Menschheit überhaupt im Stande sein wird, die Erderwärmung einzuhegen, solange sie ihr maßloses Streben nicht bereut; ob der Westen, wie der Fall Afghanistan zeigt, so sehr in seiner Blase „freiheitlicher Lebensstil“ lebt, dass er den Boden der Realität unter seinen Füßen längst verloren hat …
Hinzu kommen „alltägliche“ Verunsicherungen: das Ende der Ära Merkel und die besorgte Frage, wie wir zukünftig regiert werden; Corona und kein Ende; zunehmende Migrationsbewegungen; Spaltungen der Gesellschaft, wachsende Spannungen zwischen USA, China und Russland …
Tatsächlich brennen nicht nur die Wälder, es brennt auch das Haus, in dem wir uns viele Jahre viele Wünsche erfüllen, vor vielem Unangenehmen flüchten konnten durch Konsum, durch Reisen … Als Brechts Welt von den Nazis in Brand gesteckt wurde, schrieb er das „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“:
Neulich sah ich ein Haus. Es brannte. Am Dache leckte die Flamme. Ich ging hinzu und bemerkte, dass noch Menschen drin waren. Ich trat in die Tür und rief ihnen zu, dass Feuer im Haus sei, sie also auffordernd, schnell hinauszugehen. Aber die Leute schienen nicht eilig. Einer fragte mich, während ihm schon die Hitze die Brauen versengte, wie es draußen denn sei, ob es auch nicht regne, ob nicht doch Wind ginge, ob da ein anderes Haus sei. Und noch so einiges.
Ohne zu antworten ging ich wieder hinaus. Diese, dachte ich, müssen verbrennen, bevor sie zu fragen aufhören.Wirklich, Freunde!
Wem der Boden noch nicht so heiß ist, dass er ihn lieber mit jedem andern vertauschte, als dass er da bliebe, dem habe ich nichts zu sagen.Die Leute klammern sich an ihr Haus, wollen nicht wahrhaben, dass es verloren ist. Sie halten fest an dem, was zur Vernichtung bestimmt ist, und schlittern so in ihren Untergang.
Das Bild am Kopf dieses Newsletters ist das sogenannte „Saarpolygon“. Ich habe es während meines Urlaubs im Saarland aufgesucht: ich war ganz fasziniert davon. Das Polygon wurde auf der höchsten Abraumhalde des Saarlandes errichtet und ist wie eine Besiegelung des Endes von über 100 Jahren Kohle- und Stahlproduktion; man kann eben nichts mehr auf die Halde oben draufschütten. Das Polygon ist wie ein Tor, durch das der Weg in die Zukunft führt, gefertigt aus Stahl, dem Material der Vergangenheit, dem, was man hat und kann. Es ist ein windschiefes Tor, das nach vielen Richtungen passiert werden kann: die Zukunft ist zunächst offen und ungewiss. Aber immerhin verheißt das Tor eine Zukunft. Kohle- und Stahlarbeiter, die Opfer des Strukturwandels also, haben selbst die Treppenstufen des begehbaren Polygons gespendet: Somit ist es ein Zeichen des Sieges über Angst und Unsicherheit. Von der Höhe des Polygons herab hat man einen weiten Blick über das Land und dem Himmel darüber: ein Hauch von Offenheit und Ewigkeit rührt einen an, die jede Vergangenheit und Zukunft umgreifen und durchdringen und Gegenwart ermöglichen.
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«Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus!» (Mk 6,31)
Petra Maria Hothum SND, Juli 2021
Im Ashram sind wir froh und dankbar, dass Menschen hier einen Ort haben, an dem sie dieser Einladung Jesu folgen können. Solche Orte und Auszeiten sind wichtig, um sich von innen her erholen und neu ausrichten zu können. Aber wie im Evangelium, in dem wir hören, dass viele Menschen Jesus und den Jüngern an den „einsamen Ort“ folgen bzw. schon vor ihnen dort ankommen, können wir Ähnliches auch in uns erleben, wenn wir in die Stille, in die Meditation gehen. Wir atmen vielleicht kurz auf, merken jedoch schon bald, dass es an dem „einsamen Ort“ nicht so einsam ist, wie erwartet:
wir erwarten Ruhe und Frieden – und werden empfangen von unserer Unruhe und Rastlosigkeit …
wir sehnen uns nach Stille – und finden ein Heer von Gedanken in uns vor …
wir hoffen auf neue Energie – und erleben uns müde, matt, lustlos …
wir wollen einfach nur dasein – und können es doch kaum mit uns aushalten …
wir wünschen uns Erleuchtung – und sind Dunklem, Undurchsichtigem ausgesetzt …Wie umgehen mit all dem, was wir in uns vorfinden? Spontan werden wir vermutlich versuchen, das Erwartete und Erhoffte doch irgendwie zu erlangen und das nicht Gewünschte oder Lästige loszuwerden, und entsprechend strengen wir uns an. Jesus zeigt uns im Evangelium einen anderen Weg: „Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange“ (Mk 6,34). Er ist offen für das, was sich ihm zeigt, weist die, die seine ursprünglichen Absichten stören, nicht ab, sondern wendet sich ihnen zu, schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Er nimmt sie wahr, bemerkt, was mit ihnen ist, hat Mitleid und kümmert sich lange um sie. Wenn wir das Beispiel seiner Zugewandtheit auf unser Inneres übertragen, dann kann uns Jesu offenes Gewahrsein einladen, dasein zu lassen, was ist, ganz gleich, ob wir es gewünscht und erhofft haben oder ob es unsere Vorstellungen durchkreuzt. Seine Haltung kann uns ermutigen, unsere jeweilige Wirklichkeit offen, geduldig und liebevoll anzuschauen und so lange dabei zu verweilen, wie sie der Aufmerksamkeit bedarf. Dann kann der einsame Ort zu einem heilsamen Ort der Begegnung mit dem Menschen werden, der wir in Wahrheit sind, zu einem Ort, der uns aufleben lässt.
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Das Gleichnis Jesu von der selbstwachsenden Saat
Petra Maria Hothum SND, Juni 2021
„Jesus sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.“ (Mk 4,26-29)
Mich beeindrucken Schlichtheit und Klarheit dieser Worte Jesu und der Haltung des Mannes, der Samen auf seinen Acker sät. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dieser Mensch lege nach vollbrachter Aussaat die Hände in den Schoss und es kümmere ihn nicht mehr, was auf seinem Acker vor sich geht. Der Samen keimt und wächst ja von selbst. Doch bei genauerem Hinschauen bietet sich ein anderes Bild. Dieses Gleichnis Jesu ist keine Einladung zur Untätigkeit, vielmehr umreißt es mit wenigen Strichen eine Lebensweise, die Raum eröffnet für das Wachsen und die Erfahrung des Reiches Gottes.
Wie sieht diese Lebensweise aus? Was kennzeichnet die Haltung des im Gleichnis beschriebenen Menschen?
Dieser Mensch tut das, was jeweils dran ist:Das ist zunächst einmal das Säen des Samens auf seinen Acker, das notwendig ist, damit der Wachstumsprozess in Gang kommt. Dann aber muss er diesen Prozess geschehen lassen, ohne ihn beschleunigen und kontrollieren zu können, ohne ihn zu stören – etwa durch ungeduldigen Aktivismus rund um den Acker. Dies ist alles andere als einfach, denn wie gerne würden wir in Prozesse eingreifen, sobald sich etwas nicht so entwickelt wie von uns erwartet und erhofft!Wenn in dem kurzen Gleichnis-Text Erwähnung findet, dass der Mann schläft und wieder aufsteht, dann scheint dies für den Prozess irgendwie bedeutsam zu sein. Für mich spiegelt sich darin eine natürliche Lebensordnung, der dieser Mensch sich überlässt und in der er gegenwärtig ist: er schläft, er steht wieder auf, er isst, er trinkt, er geht den je anstehenden Notwendigkeiten und Pflichten nach, er findet Phasen der Entspannung, er wird anderen begegnen und auch wieder alleine sein … Mit anderen Worten: er lebt sein Leben hier und jetzt mit dem, was jeweils dran ist. So wie es im Text klingt, scheint er in alldem bei sich zu sein, scheint in dem zu sein, was er gerade vollzieht. Und in dieser Präsenz merkt er, was jeweils ansteht.So bemerkt er auch, wann die Zeit der Ernte da ist und ist zur Stelle, um die Sichel anzulegen – in großer Schlichtheit und Klarheit.
Dieser Mensch nimmt wahr und würdigt, was ist: Er nimmt die Anzeichen des Wachstums wahr: den Halm, die Ähre, das Korn in der Ähre. Dieser Mensch schaut also hin und sieht, was geschieht. Er kann sich öffnen für das, was wirklich ist, anstatt besetzt und behindert zu sein durch alle möglichen Gedanken, Erwartungen, Vorstellungen …So nimmt dieser Mensch auch wahr, dass es Nacht und Tag wird, das Kommen und Gehen im Ablauf des Lebens also, den Wechsel von dunklen und hellen Stunden, von schweren und beglückenden Erfahrungen. In diesem Wahrnehmen von Nacht und Tag scheinen Einverständnis und Gleichmut auf – vielleicht in dem inneren Wissen, dass das Wesentliche tiefer liegt als auf der Ebene wechselnder Erfahrungswirklichkeiten.
Dieser Mensch hält Spannungen aus: Er muss damit leben, dass er gesät hat und erst einmal lange nichts sieht, dass er nicht weiß, ob und wie der Samen aufgeht. Er ist angewiesen auf die Ernte, aber das Wachsen und Reifen der Frucht kann er nicht machen. Die Witterung kann er nicht beeinflussen. All das entzieht sich seiner Kontrolle. Über lange Zeit muss er also aushalten, dass das Ergebnis seiner Aussaat vielfach bedroht ist. Seine Leistung liegt im Dabeibleiben. Er kann nur geduldig ausharren, sich den zugemuteten Spannungsfeldern stellen und sich da sein lassen mit allem, was ist.
Dieser Mensch überlässt sich dem Geheimnis: Er weiß nicht, wie das Keimen und Wachsen der Saat vor sich geht, aber er vertraut sich diesem Geheimnis an, dass letztlich alles da ist und Entwicklung und Wachstum geschehen, wenn wir uns überlassen: dem Leben hier und jetzt und dem göttlichen Grund aller Wirklichkeit, der Liebe ist.
Vielleicht können wir uns gerade in der vor uns liegenden Sommer- und Urlaubszeit zu einer solchen kontemplativen Lebenshaltung einladen lassen, wie sie im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat aufscheint. Das jedenfalls wünsche ich uns von Herzen!
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Strukturen sind wichtig, wichtiger noch ist aber die Personwerdung des Menschen
Bertram Dickerhof SJ, Mai 2021
Verschiedene Gespräche in den vergangenen Tagen haben die Themen „katholische Kirche“ und ihr Umgang mit sexuellem Missbrauch, insbesondere in Köln, die dadurch hochgeschnellten Kirchenaustrittszahlen, und die Frage aufgerührt, ob „wir Christen“ den Menschen unserer Zeit überhaupt noch etwas zu sagen haben. Das treibt mich um. Im Neuen Testament habe ich jedoch folgenden Denkanstoß gefunden:
In den synoptischen Evangelien halten die Jünger Jesus für den Messias; Jesus selbst sagt von sich, er sei der Menschensohn. Messias ist eine Rolle, eine Funktion, die darin besteht, die Römer zu vertreiben und einen gerechten, sozialen Gottesstaat auf der Basis der Torah zu errichten. Ein solcher Messias war Jesus nicht. Er war der Menschensohn, Sohn eines Menschen, sozusagen nichts als Mensch. Ihn definieren nicht Rolle, Funktion, Besitz oder sonstige Vermögen, sondern seine Weise, Mensch zu sein. Mensch mit Leib, Seele und Geist. Er arbeitete hart, aß und trank gerne, er liebte Gesellschaft, lebte Gemeinschaft, ließ sich von Frauen berühren und konnte mitfühlen. Er suchte die Einsamkeit, die Stille, das Gebet. Und er akzeptierte Grenzen: Müdigkeit z.B., als die Jünger von ihrer Mission zurückkommen, oder Trauer durch den Verlust des Lazarus oder wegen der verpassten Chance des reichen Jünglings. Vor allen Dingen konnte er das Scheitern seiner eigenen Mission annehmen und stand mit seinem Leben für sie ein. Er wusste: der Tod gehört zum Menschen. Solches Menschsein ist göttlich. Im Buch Daniel, in dem der „Menschensohn“ überhaupt erstmalig auftaucht, ist er eine göttliche Gestalt. „Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter“ (Dan 7,14). Die Jünger Jesu verstanden, dass genau dies im Tod des Menschensohnes Jesus als seine Auferstehung geschah.
Was das mit der Kirche zu tun hat? Möglicherweise sieht diese sich vor allem in der Rolle Christi, in der sie in Sakramentenspendung, Verkündigung und Leitung agiert, und vernachlässigt, selbst lebendiger Menschensohn zu werden, d.h. den Weg der Menschwerdung zu gehen. Statt Person zu werden, bei sich selbst anzukommen und dem anderen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, hat sie sich in erstarrten Rollen über die anderen mit objektiven Wahrheiten erhoben, die sie selbst nicht zu leben vermag und die auch andern im Leben nicht helfen.
Und wie es so ist im Leben: irgendwann bricht das Vernachlässigte, ja Verdrängte, alle Dämme: die nicht bewältigte Sexualität; die Unfähigkeit, Scheitern einzugestehen – wo nach der ureigenen Botschaft des Evangeliums Gott doch gerade die Sünder liebt, die umkehren; die Unfähigkeit zur Begegnung auch mit den Opfern. In der Krise zeigt sich, wer jemand ist. Die Krise mutet dem Betroffenen zu, das Kreuz dieser Krise zu tragen. Wenn das auch für Organisationen gilt, dann geht der Reformbedarf der katholischen Kirche weit über die Aufhebung des Zölibats und die Weihe von Frauen hinaus, auch wenn dies wichtige Schritte darstellen: Anstelle von idealisierten Normen müsste eine Kultur entstehen, die Menschwerdung fördert, in der Krisen weder Sünde noch tabu sind, sondern in der Nachfolge Jesu durchlebt werden, um so mehr bei sich als Person und bei Gott anzukommen.
Diese Kirche könnte ihre Erfahrungen der Menschwerdung einer Menschheit anbieten, die sich zum Krebsgeschwür des Planeten entwickelt hat: immer mehr, immer weiter. „Was geht, lasst uns rausholen, lasst uns machen, was uns in den Sinn kommt!“ – und damit ständig beweist, dass grenzenloses Streben nicht nur niemanden wahrhaft erfüllt, sondern die Erde zerstört. So paradox es klingt: Beim Annehmen-Lernen einer Grenze ist zu erfahren, dass Nichts sättigt. Diese Kunst zu erlernen ist der Ausweg aus den Krisen, die die grenzenlose Gier des Menschen heraufbeschworen haben. Und Christen könnten zusammen mit anderen in dieser Kunst vorangehen.
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Elija: vom Kämpfen-Müssen zum Sein-Dürfen
Bertram Dickerhof SJ, April 2021
Schon immer hat mich die Gestalt des Elija fasziniert (1 Kön 17-19; 2 Kön 1-2). Ein Kämpfer und Heroe des Herrn ist er, der von sich selbst sagen kann: „Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den HERRN, den Gott der Heerscharen, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben“ (1 Kön 19,10.14). Engagement, Courage, kein Dienst nach Vorschrift. Bewundernswert! In der Auseinandersetzung mit den Baalspropheten, Priester einer auf Wirtschaftswachstum dynamisch und machtvoll ausgerichteten Kultur, siegt er schließlich. Da die Königin an dieser aber weiterhin festhält und die eigentliche Bestimmerin in Israel ist, hat Elija zwar eine Schlacht gewonnen, den Krieg jedoch verloren. Er muss um sein Leben fürchten und flieht in die Wüste. Dort möchte er sterben, erschöpft und niedergeschlagen, wie er ist, ungenügend, wie er sich fühlt: „Ich bin nicht besser als meine Väter“ (1 Kön 19,4). Doch irgendwie erlebt er einen Umschwung. In ihm beginnt eine Kraft zu wirken, die ihm eine Perspektive verheißt und ihn immer weiter in die Einsamkeit, Stille und Leere der Wüste hineinzieht. Dieser Weg des Innewerdens ernüchtert und öffnet ihn zugleich, so dass ihm eine Erfahrung möglich wird, die seine Welt auf den Kopf stellt: Nicht im die Berge zerreißenden und die Felsen zerbrechenden Sturm, nicht in Erdbeben oder Feuer ist Gott. Elija muss seine Gottesvorstellung aufgeben. Ein „sanftes, leises Säuseln“ ist es, worin ihm Gott erscheint. Für die Diener des Baal ist klar, dass nur zählt, was unterm Strich rauskommt. Aber auch Elija ist mit diesem Denken imprägniert – „nicht besser als die Väter“ – und daran gescheitert. Durch das sanfte und leise Säuseln des Windes, das ihm in der glühenden Hitze der Wüste Kühlung zuhaucht, geht ihm auf: ich darf sein, weil ich unabhängig von Sieg oder Niederlage bejaht und gewollt bin, ebenso wie die blinde, in ihr Verderben laufende Welt. Selbst was nicht sein sollte, nun aber doch ist, muss nicht anders sein, weil diese Welt von Gott gewollt und bejaht ist. Das bedeutet nun nicht Laufenlassen und Faulheit, sondern die Freiheit, unwillkürliche Reaktionsmuster zu durchbrechen.
In der Tat wird Elija mit neuen Aufträgen zurück in die Welt gesandt. Aber er ist nicht mehr davon getrieben, das eigene Ungenügen wegkriegen zu müssen. Ein solcher Antrieb mündet bei Schwierigkeiten schnell in „leidenschaftlichen Eifer“ oder gar Verbissenheit. Diese polarisieren und verpassen den Parteien einen Tunnelblick, der Kompromiss, Kreativität und Handlungsenergie blockiert. Vielmehr lebt und wirkt Elija nun aus Vertrauen und Verdanktsein: Vertrauen, dass Gott an der Arbeit ist, seine Schöpfung zu retten, entgegen allem Anschein: denn Gottes Pläne und Wege sind so hoch erhaben über unseren, wie der Himmel über der Erde (Jes 55). Sein Leben als Geschenk und sich selbst als gewollt und als Segen für die Welt – d.h. als verdankt – zu verstehen, macht es möglich, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und in einer spielerischen Leichtigkeit zu handeln. So entstehen Lösungen, die wirklich lösen.
Auch unsere Gegenwart ist alles andere als rosig. Da ist durchaus etwas zu tun für jeden von uns. Aber nicht aus dem Zwang eines vermeintlich rationalen Zusammenhangs, wie jenem, dem der frühere Elija unterworfen war: „wenn erst einmal die Baalspropheten über die Klinge gesprungen sind, dann wird Israel wieder zu Jahwe zurückkehren.“ Umkehr ist angesagt. Meditation ist ein Weg, auf dem Vertrauen und die Erfahrung unbedingter Bejahung wachsen. Daraus sprosst die Freiheit, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, sie zu durchleben bis auf den Grund und zu tun, was sich dort als zu tun offenbart
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Von der Stärke, seine Schwachheit anzunehmen
Bertram Dickerhof SJ, Februar 2021
Schon immer hat mich die sogenannte „Narrenrede“ (2. Kor 11,16 – 12,13) des hl. Paulus angezogen. Über den Jahreswechsel habe ich einen neuen Zugang bekommen zu dem Teil davon, in dem Paulus vom „Stachel im Fleisch“ spricht, an dem er sich reibt und den er partout loswerden will, – allerdings ohne Erfolg. Ihm geht vielmehr auf, worauf es in dieser Situation ankommt, als er vernimmt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“ (2. Kor 12,9).
Wir reiben uns an Corona und wollen es loswerden. Manche sind dadurch mit Krankheit, Tod und anderen Existenzängsten konfrontiert, andere mit Einsamkeit, Langeweile und Nutzlosigkeit. Da fühlt man sich schnell auch ungenügend und minderwertig, erst recht, wenn man nichts mit sich anfangen kann und alles Überwindung kostet. Wenn die Umstände unseres Lebens, unser Befinden oder unser Selbstgefühl nicht dem entsprechen, was wir erwarten oder uns wünschen, wenn sie uns sozusagen „stacheln“, beginnen wir fast automatisch uns umzuschauen und mit den Füßen zu scharren, ob wir etwas tun können, um diese loszuwerden und sind damit hintergründig fast dauernd beschäftigt. Ich plädiere hier nicht dafür, zu allem Missliebigen Ja und Amen zu sagen, sondern dafür, alles zu unterscheiden. Unterscheidung setzt allerdings voraus, die genannte Automatik zunächst einmal auszuschalten und d.h.: den Stachel zu erleben. Wenn es keinen Grund gibt zu handeln außer dem, das Störende wegkriegen zu wollen, weil es eben „stachelt“, erst recht, wenn das Störende gar nicht weggeschafft werden kann, dann wird auch uns gesagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“
Dieses Wort fordert mich und meinen Glauben heraus: wo ich nur Schwachheit sehen und erleben kann, besagt es Dreierlei. Erstens: Gott ist mit mir; gegen den Anschein ist das Entscheidende in Ordnung. „Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ fragt Paulus, um schließlich die Antwort selbst zu geben: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8, 31.38f), schon gar nicht gefühlte Schwachheit. Zweitens soll ich mich auf dieses Entscheidende besinnen und mir daran genügen lassen. Paulus erkennt nämlich den Sinn des Stachels darin, sich nicht zu „überheben“. Indem uns zuteilwird, was wir erstreben oder ersehnen, können wir uns groß, stark und sicher fühlen und die reale Schwäche des vielfach abhängigen, hinfälligen und sterblichen Menschen, der wir sind, vergessen. Wenn ich es mir an Gottes Gnade genügen lasse, integriert sich meine Persönlichkeit und ich muss mein Leben nicht mehr im Schwanken zwischen Größenwahn und Minderwertigkeit zubringen. Daher ereignet sich, drittens, in diesem gefühlt missliebigen Zustand in Wahrheit Vollendung der Kraft Gottes in mir: ich werde ganz, befreit zu der Person, die ich bin und die aus ihrem eigenen Grund lebt: aus Gott und zugehörig zu Ihm.
Spontan betrachten wir die erlebte Schwachheit nur als Defizit, das wir nicht haben wollen, nehmen die Opferrolle ein, klagen und jammern oder bekämpfen die Störung, indem wir uns ablenken oder etwas gegen sie unternehmen. Die neue Sicht der Schwachheit, die uns hier angeboten wird, lautet: Richte Dich auf! An Dir ist nichts verkehrt, wenn Du Dich schwach fühlst. Dieser Zustand ist Teil der Wirklichkeit und wenn er Dir begegnet, nimm ihn an als Chance, vollendet zu werden. So wie auch die Heilbehandlung eines Arztes unangenehm, ja schwer auszuhalten sein kann, so ist Gott jetzt an Dir am Werk, um dich zu dir selbst zu befreien und mit ihm zu einen. Der Vergleich verdeutlicht, woher die Kraft dazu kommt: nicht aus dem Willen, so dass die Person sich zusammenreißt, sondern aus der Beziehung und dem Vertrauen zum Arzt bzw. zu Gott.
In dieser neuen Perspektive zeigt sich die Hingabe an das Handeln Gottes in der Schwachheit als wirkliche Stärke. Die Person lässt sich nicht vom Stachel treiben, weil sie keinen Sinn darin sehen kann und beherrscht ist davon, ihn wegzukriegen. Es ist Stärke, die im Vertrauen standhält und sich hingibt an Gottes Wirken, dabei frei wird und sich aufrichtet.
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Die Hände von Barlachs lehrendem Christus
Petra Maria Hothum SND, Januar 2021
Auf der Suche nach einem Foto für diesen Newsletter blieb ich – ganz anders als erwartet – bei dem obigen Ausschnitt einer Christus-Skulptur von Ernst Barlach hängen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie diese Darstellung mich bei einem Besuch in Güstrow in ihren Bann gezogen hat – ebenfalls ganz unerwartet, denn mein Interesse und meine Suche galten damals vor allem einem anderen Werk des Künstlers. Doch diese offen hingehaltenen Hände haben mich regelrecht gefunden, und die schlichte Präsenz des „Lehrenden Christus“, wie Barlach diese Skulptur nennt, hat mich unmittelbar berührt. „Lehrender Christus“ – Was für ein Lehrer ist das, der mir da begegnet? Was kann ich von ihm lernen? Was sagen mir allein schon seine Hände? Was können sie uns vielleicht gerade in diesen schwierigen, unwägbaren Zeiten sagen? Was kann ihre Botschaft sein für dieses Jahr, an dessen Anfang wir noch stehen?
Diese Hände sind offen und leer: sie halten weder Schriftrolle noch Programm, halten sich nicht fest an Ideologien, Reichtümern, Machtmitteln …, sie setzen sich einfach aus …
Diese Hände können sich öffnen für das, was ist: sie empfangen, nehmen auf, lassen da sein, was ist und wie es ist; sie müssen nichts abwehren, aussortieren, geradebiegen …; sie lassen sein, lassen sich selbst sein …
Diese Hände können verweilen: sie vermitteln Ruhe und Gelassenheit, sie können dem Raum und Zeit geben, was sich von innen her langsam entwickeln und zeigen will; sie sind bar jeder überstürzten Geschäftigkeit, sind weder mahnend noch kämpferisch erhoben …
Diese Hände geben, was sie selbst empfangen haben: sie lassen Übergebenes weiterströmen, stören nicht den organischen Fluss und halten nichts ängstlich zurück; vielmehr halten sie Anvertrautes einfach hin, bieten letztlich sich selber dar …
Diese Hände sind frei und lassen frei: sie wollen nichts krampfhaft festhalten, nichts um jeden Preis durchsetzen, nichts gewaltsam erzwingen …; geöffnet für Begegnung, laden sie unaufdringlich ein – verbindlich und absichtslos zugleich; ihre Stärke liegt in ihrer Sanftheit …
Diese Hände sind zugewandt in Liebe: sie sagen: „ICH BIN DA!“ – ungeschützt und wehrlos, ohne gönnerhaftes Gehabe und großes Gebaren, sondern in schlichter, zugewandter Geste, die offener, demütiger und liebevoller nicht sein könnte …
Das Betrachten der Hände des „lehrenden Christus“ bringt in mir vielerlei Schriftworte zum Klingen, vielleicht geht es Euch und Ihnen ähnlich …! – Hier nur zwei solcher „Anklänge“: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden … Kommt alle zu mir …! Lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele“, so lädt Jesus im Matthäusevangelium (11,27-30) die Menschen ein.Und der Prolog des Johannesevangeliums (1,16) sagt über ihn: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade.“
Mögen Seine Hände uns einladen, uns einzulassen auf die Lebens-Haltung des „Lehrenden Christus“, die sich in ihnen so eindrücklich zeigt. Mögen wir uns immer wieder öffnen, um innezuhalten und von IHM zu lernen, um aus Seiner Fülle zu empfangen … Dann können wir uns getrost dem stellen, was ist. Und dann kann dieses noch junge Jahr ein gesegnetes werden, wohin immer es uns führen und was immer uns darin begegnen mag!
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Weihnachten
Petra Maria Hothum SND, Dezember 2020
Einer der Betrachtungstexte für unsere diesjährige virtuelle Meditationsgemeinschaft im Advent ist das folgende Gebet von Kardinal John Henry Newman (1801-1890):
„Führe mich, du mildes Licht, im Dunkel, das mich umgibt,
führe mich hinan!
Die Nacht ist finster, und ich bin fern der Heimat:
Führe mich, du mildes Licht!
Führe mich hinan!
Leite meinen Fuß. –
Ich verlange nicht zu sehen die ferne Landschaft, nur ein Schritt ist genug.”Diese demütige Bitte um Führung im Dunkel spiegelt die Haltung wider, die die biblischen Gestalten im Umkreis der Krippe zutiefst geprägt haben muss. Denn sie alle hatten keinen klaren Weg vor sich, sondern mussten durch Zweifel und Unsicherheit gehen: – allen voran Maria: sie lässt sich auf eine unglaubliche Verheißung ein, nicht wissend, wie das geschehen soll und was auf sie zukommt … – Josef: sein Vertrauen in seine Verlobte ist einer enormen Zerreißprobe ausgesetzt, doch fühlt er sich gerufen, in Treue zu ihr zu stehen … – die Hirten, die in der Nacht wachen: ihnen wird die Geburt des Retters verkündet, und was sie vorfinden ist ein hilfloses Kind in der Krippe … – die Sterndeuter: sie folgen dem Stern des neugeborenen Königs der Juden und müssen auf einem langen Weg lernen, dass dieser sie nicht ins Zentrum der Macht nach Jerusalem, sondern ins kleine Betlehem führt …
All diese Menschen sind unterwegs im Dunkel. Die Hirten sind unbehaust. Die Sterndeuter wandern fern ihrer Heimat, fern all dessen, worin man sich auskennt. Maria und Josef erleben sich auf ihrem Weg nach Betlehem jenseits gewohnter Sicherheiten und ohne schützende Herberge. Das, was sie alle auf den Weg bringt und unterwegs bleiben lässt, was sie erfahren und vorfinden, besitzt Anziehung. Und doch ist es alles andere als klar und eindeutig. So können sie nicht selbstsicher ausschreiten in wissendem Überblick. Sie müssen vielmehr ihre Schritte suchend und tastend setzen im Dunkel des Glaubens – Irrungen und Krisen ausgesetzt. Auf einen solchen Weg kann sich nur einlassen, wer hört, wer also innehält, der eigenen Wirklichkeit inne wird und bei ihr aushält, sie durchlebt. Auf einem solchen Weg kann nur bleiben, wer vertraut und sich führen lässt – Schritt für Schritt, wieder und wieder. Auf einem solchen Weg der Wandlung und Mensch-Werdung bleibt der Mensch ein Leben lang – im immer neuen Loslassen eigener Vorstellungen und Illusionen und im immer neuen Einlassen auf den einen nächsten Schritt.
Das vor uns liegende Weihnachtsfest lädt ein, uns den biblischen Gestalten um die Krippe anzuschließen, gerade vielleicht in diesem Jahr. Weltweit hat die Corona-Pandemie gravierend in Planungen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten eingegriffen, ja unser Leben auf den Kopf gestellt. Mangel und Verlust, Unsicherheit und eigeschränkte Möglichkeiten im Außen öffnen uns neu dafür, um innere Führung und Wegweisung zu bitten, darum, den je einen nächsten Schritt zu erkennen und um Mut, ihn setzen zu können. Als der neuerliche Lockdown sich anbahnte, konnte man als Schlagzeile die folgende Frage lesen: „Gibt es Chancen auf ’normale‘ Weihnachten?” – Was immer damit gemeint sein mag: diese Chance gibt es eventuell nicht oder nur eingeschränkt. Aber vielleicht gibt es ja die viel wesentlichere Chance, dem innersten Kern von Weihnachten etwas näher zu kommen, dem eigenen Inneren, in dem Christus Mensch werden möchte.
Dass wir durch alles Dunkel, Fremde und Verunsichernde immer weiter geführt werden auf diesem Weg – Schritt für Schritt – das ist unser Weihnachtswunsch für Sie, Euch und uns alle und unser Segenswunsch für das Neue Jahr!
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Graswurzelkirche
Bertram Dickerhof SJ, Oktober 2020
Petra Maria Hothum und ich bieten ab Herbst nächsten Jahres eine „Ashram-Ausbildung” an, die dazu befähigen soll, eine Ashramgruppe oder einen Ashramtag zu leiten. Das Konzept dieser Ausbildung unterscheidet sich wesentlich von den beiden dreijährigen „Lernwegen”, die wir 2013 und 2016 begonnen haben. Es sieht 5 verlängerte Wochenenden vor, verteilt über ein Jahr, und ist „pragmatisch“ gestrickt: je eine Einheit ist den zentralen Themen „Meditation”, „Gruppe” und „spirituelle Deutung” gewidmet. Die erste Einheit dient der Grundlegung der Ausbildung und der stillen Zeit aus Meditation und Schriftbetrachtung, die im Alltag eingerichtet werden soll. Die letzte Einheit rundet die zurückgelegte Strecke ab und fragt nach dem persönlichen Weiterweg. Da Meditation nur durch Meditieren zu erlernen ist, setzen wir 30 Kurstage im Ashram Jesu voraus.
Der Boden, aus dem diese Ausbildung erwächst, ist kein anderer als der der früheren Lernwege. Doch treten heute die Bedeutung und die Dringlichkeit eines solchen Angebots deutlicher zu Tage. Die „Volkskirchen” befinden sich in sich beschleunigender Talfahrt. Sie begegnen ihr mit Strukturanpassungen. Die katholische Kirche in Deutschland möchte sich in ihrer Organisationsform modernisieren, ein richtiger und überfälliger Schritt. Allerdings ist man Christ weder, weil man einem „christlichen” Volk angehört, noch wird man es wegen der Organisationsform der Kirche, sondern weil einem Menschen in Person und Botschaft Jesu ein Weg zu einem sinnerfüllten Leben aufgeht, einem Leben, das größer ist als diese Welt und über den Tod hinausreicht, und dieser Mensch diesen Weg in Freiheit und in Gemeinschaft mit anderen gehen will. Das ist Liebe zu Jesus – „wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt” (Joh 14,21) – und diese Liebe ist das Fundament der Kirche, nichts sonst. Wo aber kann man heute Jesus begegnen, wie kann man lernen, seinen Weg zu gehen, ja ihn zu lieben?
Um Jesus und seine Bedeutung für das eigene Leben kennenzulernen, braucht es „Orte”, an denen seine Gegenwart erfahren werden kann. Solche „Orte” sehe ich z.B. auch in „Ashramgruppen”. Man muss kein Glaubensbekenntnis haben, um an ihnen teilnehmen zu können. Diesbezüglich sind Ashramgruppen offen und voraussetzungslos. Die Teilnehmer*innen der Ashramgruppe üben Vipassana-Meditation. Der Ashram Jesu versteht diese als Beten nach „Methode” und Geist des Vaterunsers, insofern die Meditierenden darauf vertrauen, dass sie das, was sie ersehnen, nicht dadurch finden, dass sie auf ihren Absichten bestehen, sondern dadurch, dass sie sich verwandeln lassen, indem sie bereit sind, in der Meditation bewusst geschehen zu lassen, was geschieht, und die eigenen Absichten und Erwartungen loslassen, sobald sie ihrer gewahr werden. Über die gemeinsame Meditation hinaus geben die Teilnehmer*innen einander Raum anzusprechen, was die Einzelnen persönlich bewegt.
Eine solche Gruppe sollte von einer Person geleitet werden, die im Alltag die Nähe zu Jesus in Meditation und Schriftbetrachtung sucht und dabei allmählich lernt, aus dem Hören heraus zu handeln, und nicht, weil sie etwas sieht und denkt, dies oder das wäre gut. Solche Menschen gibt es, aber sie müssen sich für diese Aufgabe zur Verfügung stellen. Das verlangt, die Rolle eines Konsumenten und Laien in Sachen Spiritualität abzustreifen, Verantwortung zu übernehmen und seine Spiritualität mit anderen zu teilen, auch wenn sie einem gefühlt als zu wenig vorkommt.
An solche Personen richtet sich unsere Ausbildung. Sie möchte ihnen Werkzeug an die Hand geben, so dass sie eines Tages, wenn sie sich dazu gerufen fühlen, solche Orte aufbauen, an denen Menschen etwas spüren können von der Gegenwart Christi in einer reinen Präsenz und dem Frieden, der darin liegt: Orte, an denen Gemeinde entsteht; Orte, an denen Nachfolge Jesu geübt wird.